Unter Geistern
Andreas nimmt sich Zeit, die vergilbte Fotografie und die Widmung auf der Rückseite eingehend zu studieren. Priska kann ihm förmlich ansehen, wie es in seinem Gehirn rattert. Schließlich hebt er seinen Blick und fragt sie:
»Woher hast du dieses Bild?«
»Es lag vor ein paar Tagen auf unserem Esstisch. Luis und Elena haben es gefunden.« Priska sieht zu ihrer Tochter hinüber. Diese nickt bestätigend. »Ich nehme an, dass Eleonore es dort platziert hat.« Priskas Augen wandern zu der kleinen, weißen Gestalt auf Ranieris Schoß. Doch das Gespensterkind schüttelt den Kopf. Es fühlt sich eigenartig an, dass sie Eleonore nun ohne Spiegel vor sich sehen und direkt mit ihr kommunizieren kann.
»Nein, ich war das nicht.« Eleonores Stimme ist klar. Abgesehen von dem echoartigen Nachhall, der noch einige Sekunden lang in der Luft hängt und von den nachfolgenden Worten überlagert wird. »Ich habe das Bild zum ersten Mal gesehen, als Elena es in der Hand hielt. Es macht mir Angst.« Die dunklen Augen in dem blassen Gesichtchen wirken noch größer als sonst. Priska versucht, sich in das Kind hineinzuversetzen. Es ist nur selbstverständlich, dass die Fotografie Eleonore verstört. Schließlich ist es ihr eigener, lebloser Körper, der dort im Sessel sitzt. Prompt überzieht Gänsehaut Priskas Gliedmaßen. Fröstelnd verschränkt sie die Arme. Gegen die vertraute Kälte, die sich in ihrem Inneren ausbreitet, können auch die warmen Sonnenstrahlen nichts ausrichten. Wer hatte das Foto dann in ihr Haus gebracht und so drapiert, dass sie es entdecken mussten? Nachdenklich blickt sie Ranieri an, doch der hebt abwehrend die Hände.
»Nein, ich habe nichts damit zu tun. Und leider auch keinen Schimmer, wer dahintersteckt.« Irritiert verfolgt Priska, wie das Gesicht ihres ehemaligen Geliebten binnen Sekunden altert. Sein Antlitz wirkt plötzlich kantiger und um seine Augen, deren Farbe ständig von Blau zu grün changiert und umgekehrt, haben sich feine Fältchen gebildet. Woher stammen sie? Gibt es im Jenseits so viel zu lachen? Sie muss schmunzeln und bemerkt, dass auch seine Mundwinkel zucken. Seine telepathischen Fähigkeiten hatte sie ganz vergessen.
»Obwohl ich mittlerweile in vielerlei Hinsicht vom Glauben abgefallen bin: Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Foto von selbst in unser Wohnzimmer spaziert ist und sich auf den Tisch gelegt hat.« Elena und Jeremias kichern. Der Rest verzieht keine Miene. Andreas kratzt sich am bärtigen Kinn.
»Ich kenne einen Antiquar hier im Ort. Vielleicht hat er eine Idee, wer diese Aufnahme gemacht hat. Die Fotografen, die damals hier im Umkreis tätig waren, kann man sicherlich an einer Hand abzählen.« Andreas‘ wache Augen fixieren Priska. »Aber ich weiß nicht, ob euch das weiterbringt. Ich denke, dass ihr die Antworten eher in der Anderswelt findet.« Er verstummt und scheint zu überlegen, wie er sich am besten erklären, wie er offenkundig Unglaubliches in Worte fassen kann. Sein Blick wandert zu Elena, Jeremias und Eleonore. Die Pizza ist bis auf ein paar Randstücke verspeist und die Kinder rennen wieder jauchzend im Slalom um Tische und Stühle. Das Geisterkind unterscheidet sich kaum von seinen Spielgefährten. Lediglich die altmodische Kleidung und der dezente, lumineszierende Schein, der Eleonores Körper umgibt, weisen darauf hin, dass sie kein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Schon seit hundertvierzig Jahren nicht mehr. Dem Kind ist eine beinahe vollkommene Manifestation geglückt. Und Ranieri? Er sitzt noch immer neben ihr. Als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Und Priska kann ihn nicht nur mit ihren eigenen Augen sehen. Nein, auch all ihre anderen Sinne signalisieren ihr deutlich seine Präsenz. Er ist einfach so aus ihrem Traum in die Realität gesprungen. Warum war das vorher nicht möglich?
»Was ist die Anderswelt und wie kann ich dorthin gelangen?«, fragt Priska. Doch in irgendeinem verborgenen Winkel ihres Unterbewusstseins ahnt sie die Antwort bereits.
»Für die Kelten ist die Anderswelt der Ort, an dem die mystischen Wesen wohnen.« Unwillkürlich muss Priska an Juna denken. Das rothaarige, grün gewandete Mädchen aus ihrem Traum. Andreas beobachtet sie genau und auch Ranieri mustert sie aufmerksam. »Für uns hier symbolisiert sie in erster Linie das Jenseits.« Andreas hält kurz inne und wechselt einen rätselhaften Blick mit Priskas Exfreund. »Es gibt verschiedene Zugänge. Zum Beispiel über deine Träume.« Priska schluckt. Andreas weiß offensichtlich mehr, als er zuerst preisgeben wollte. Vielleicht vermag er ihr auch etwas zu ihrer Herkunft sagen. Priska merkt, wie ihr Herzschlag sich beschleunigt. ›Alles zu seiner Zeit‹, ermahnt sie sich selbst. Sie versucht, ihre Neugier und das Gedankenkarussell, das sich schon wieder so schnell dreht, dass ihr schwindlig wird, einzubremsen. »Und es gibt diese besonderen Orte, an denen die Grenzen durchlässiger sind und die Dimensionen sich überlappen, ja, sogar bisweilen miteinander verschmelzen.« Er holt tief Luft. »Das hier ist so ein Ort, Priska. Deshalb kannst du in meinem Haus auch viel einfacher mit Ranieri und Eleonore in Kontakt treten. Und aufgrund der starken Energiefelder fällt es den Geistern leichter, sich zu materialisieren.« Obwohl Priska schon immer gespürt hat, dass die versteckte Gaststätte, an der viele Passanten vorbeihasten, ohne sie überhaupt wahrzunehmen, nicht nur das ist, was sie zu sein vorgibt, muss sie die neuen Informationen erst verdauen.
»Das heißt, außerhalb von Priskas Träumen kann ich nur hier für sie sichtbar werden?«, fragt Ranieri und leise Traurigkeit schwingt in seiner Stimme mit.
»Vorerst ja«, nickt Andreas. »Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ihr es irgendwann aus eigener Kraft schafft, dich dauerhaft in der diesseitigen Welt zu manifestieren. Priskas Fähigkeiten sind hierfür mehr als ausreichend.« Abermals wendet sich Andreas Priska zu. Seine Blicke erinnern sie an Röntgenstrahlen.« Doch derzeit kannst du deine Macht gerade einmal im Ansatz erahnen, nicht wahr?« Er lächelt. Trotzdem bemerkt Priska die Anspannung hinter seinem gefassten und besonnenen Äußeren.
»Ja, ich taste mich langsam vor. Via Trial und Error«, entgegnet Priska. Sie klingt bissiger, als sie es beabsichtigt hat. »Bitte entschuldigt.« Ein leichtes Schnauben entfährt ihr. »Aber es wäre leichter und wahrscheinlich auch zielführender, wenn mich jemand in die ganze Materie einführen könnte. Ich weiß ja noch nicht einmal mehr, wer oder was ich bin und nach was ich eigentlich suche.« Mit vor gerecktem Kinn erwidert sie beinahe kämpferisch Andreas Röntgenblicke. »Irgendwie habe ich den Eindruck, dass ihr alle mehr über mich wisst, als ich selbst. Andreas, sag mir: Bin ich überhaupt ein Mensch?« Im gleichen Moment wird ihr die Ungeheuerlichkeit ihrer Frage bewusst und ein unkontrolliertes Zittern erfasst ihren gesamten Körper.
»Ich glaube, das lässt sich nicht einem einfachen »Ja« oder »Nein« beantworten«, weicht Andreas aus. Doch allein diese Aussage lässt Priska nach Luft schnappen und den Boden unter ihren Füßen wanken. Andreas‘ Blick schweift über den glitzernden Eisack und die üppigen Weinberge. Die wilden Zacken der Dolomiten befinden sich dahinter, sind jedoch vom Tal aus nicht zu sehen. »Wie du weißt, ist dieses Land reich an Mythen und Legenden. Einige davon werden nur in wenigen, ausgewählten Familien weitergegeben. Es sind Geschichten, die nirgends niedergeschrieben und nur hinter vorgehaltener Hand erzählt werden. Aus Angst, dass die Worte, sobald sie auf Papier gebannt wurden, Unheil anziehen könnten. Und diese geheimen Überlieferungen enthalten Hinweise auf deine Herkunft. Allerdings ist da auch viel Dichtung mit im Spiel. Und keine der Geschichten ist chronologisch, geschweige denn lückenlos. Das ist auch kein Wunder.« Jetzt sieht er Priska wieder an. Doch seine Mimik ist undurchdringlich. »Teilweise reichen diese Legenden zurück bis zum Anbeginn der Welt. Soviel kann ich dir sagen: Es fließt uraltes Blut durch deine Adern.«
»Magst du mir nicht zumindest die Quintessenz aus diesen Geschichten verraten?«, fragt Priska ungeduldig. »Warum verbirgst du meine eigene Identität sogar vor mir selbst? Was hat das für einen Sinn? Ich musste in den letzten Tagen nicht nur einmal um mein Leben kämpfen. Ich habe keine Zeit für Spielchen.« Ranieri wirft ihr warnende Blicke zu und schüttelt leicht den Kopf. Priska ist sich durchaus bewusst, dass sie es sich nicht mit Andreas verscherzen sollte. Aber Diplomatie war noch nie ihre Stärke. Daher hat sie für Ranieris beschwichtigende Gesten nur eine wegwerfende Handbewegung übrig. Doch Andreas lässt sich ohnehin nicht aus der Ruhe bringen.
»Ja, und ich kann dir versichern, dass du dein Leben nicht zum letzten Mal riskiert hast. Es warten noch so einige Prüfungen auf dich. Was du bisher erlebt hast, war nur ein kleiner Vorgeschmack. Ein Probelauf. Zum warm werden.« In seinen hellen Augen liegt nicht nur Güte, sondern auch eine gewisse Härte. »Ich musste mir auch vieles zusammenreimen, Priska. Als du vor zwanzig Jahren mein Haus zum ersten Mal betreten hast, habe ich damit angefangen, die Informationen Stück für Stück zusammenzutragen. Ich wusste, dass du eines Tages zurückkommst. Und ich werde dich bei deinen Aufgaben und deiner Suche nach deinen Wurzeln nach Leibeskräften unterstützen. Dessen darfst du dir gewiss sein. Aber die einzig richtige Wahrheit kenne auch ich nicht. Die musst du selbst herausfinden. Mein scheinbares Wissen basiert nur auf Hörensagen. Und ich glaube, im Moment würden dich diese schwammigen Fragmente nur zusätzlich verwirren und weitere Fragen aufwerfen und dich schlimmstenfalls sogar von deinem Weg abbringen. Sie werden dir in deinem jetzigen Stadium nicht weiterhelfen, sondern dich eher ausbremsen. Denk nach: Was sind die vor dir liegenden Ziele?« Andreas sieht sie erwartungsvoll an, doch in ihrem Kopf herrscht gerade so viel Chaos, dass sie nicht einen klaren Gedanken fassen kann.
»Priska, was hat dich hierher geführt?«, fragt Ranieri sanft. Seine Augen schimmern und Priska verspürt ein sehnsuchtsvolles Ziehen. Im gleichen Augenblick denkt sie an Luis, der tausende Kilometer entfernt mit seinem Ausgrabungsprojekt beschäftigt und wahrscheinlich in Gedanken ebenfalls bei ihr ist. Warum macht all die Liebe, die sie durchströmt, ihr Herz unendlich schwer statt federleicht? Das schlechte Gewissen und das schwarze Loch um ihre Herkunft nagen an ihr. Doch sie versucht, die negativen Emotionen von sich zu schieben und sich auf den Grund für ihre Reise zu besinnen.
»Den Ausschlag hat das Foto von Eleonore gegeben. Die Ortsangabe auf der Rückseite. Doch mein Entschluss, hierher zurückzukehren, hat sich wohl schon viel früher ausgeformt. Die Träume vom Antermoiasee und von der schwarzen Frau. Ihre dunklen Gesandten, die mich verfolgen. All das scheint in den Dolomiten seinen Ursprung zu haben.« Ranieri blickt sie unverwandt an. »Du hast mich zu der Dämonin im See geführt«, erinnert sie sich.
»Ja«, sagt Ranieri schlicht. »Aber auch mir werden lediglich Bruchstücke zugetragen, Priska. Von alten und von ruhelosen Seelen, deren Gedanken und Erinnerungen mich streifen wie flüchtige Nebelschwaden. Eleonore ist eine der wenigen, die ich ähnlich deutlich wahrnehme wie dich, Elena und Jeremias.« Er dreht seinen Kopf in Richtung ihres Gastgebers. »Und Andreas«, ergänzt er. Ein dankbares Lächeln huscht über Ranieris Gesicht und spiegelt sich in dem Antlitz des alten Mannes.
»Weißt du noch«, setzt Priska an. »Du hast versprochen, mir alles zu zeigen.«
»Das ist richtig«, antwortet Ranieri. Ihrer beider Augen ruhen ineinander und Priska spürt, wie sich allmählich die alte Vertrautheit zwischen ihnen wieder einstellt. »Alles, von dem ich Kenntnis habe.« Neben ihnen sitzen die Kinder auf dem warmen Steinboden und füttern die Spatzen mit Brotkrumen. Vielleicht sind auch die Vögel hier verzaubert. Sie fressen wie selbstverständlich aus Elenores Hand. Andererseits meint Priska sich zu entsinnen, dass Tiere einen siebten Sinn für übersinnliche Phänome und Geistererscheinungen haben. So oder so muss sie mehr über diesen magischen Ort erfahren. Andreas nippt an seinem Weinglas und scheint nur darauf zu warten, dass sie ihm weitere Fragen stellt.
»Was ist eigentlich deine Rolle in diesem undurchschaubaren Spiel?«, fragt sie ihn unverblümt.
»Ich bin ein Wächter, Priska.« Andreas strafft seine Schultern. »Dieses Portal ist ein geschützter Raum für alle verstorbene Seelen von freundlicher Gesinnung. Gleich, in welcher Dimension sie sich normalerweise aufhalten. Vielen ist es nur hier möglich, mit anderen Geistern zu kommunizieren. Und für einige Orientierungslose ist mein Haus ein Zufluchtsort. Manche halten sich dauerhaft innerhalb dieser Mauern auf. Und ich, sowie ein paar andere Helfer sorgen dafür, dass weder rachsüchtige Gespenster, noch Dämonen Zutritt zu diesem Ort erlangen. Erstere sind meist ortsgebunden und daher keine allzu große Gefahr. Die Teufel, die sie schicken, allerdings schon.«.
»Du meinst zum Beispiel diese Schreckgestalten, die uns vorhin verfolgt haben? Ich bin überzeugt davon, dass die schwarze Frau sie auf mich gehetzt hat!« Andreas nickt. Er wirkt nicht überrascht. Ist auch sie ihm ein Begriff? Die düstere Spukerscheinung, die direkt aus ihrem eigenen Porträt im alten Haus entstiegen zu sein scheint? Nur ungern denkt Priska an das verbitterte, hagere Antlitz und die dunklen Phantome zurück, die ihr nach dem Leben trachten. »Sie ist sicher auf Vergeltung aus«, sinniert sie. »Doch ich weiss nicht, warum und auch nicht, was ich damit zu tun habe.
»Das ist eines der Rätsel, das du lösen musst. Vielleicht gibt es zwischen deinen …«, er überlegt kurz, »Missionen … einen Zusammenhang. Geh in dich Priska. Konzentriere dich aufs Wesentliche.« Andreas schlohweißes Haar leuchtet in der Sonne. »Hier seid ihr zunächst sicher. Daher möchte ich dir und den Kindern anbieten, bei mir zu wohnen, solange ihr im Lande weilt.«
»Das wäre wunderbar!«, antwortet Priska prompt. Kaum, dass Andreas seinen letzten Satz beendet hat. Ein Teil der Last, die ihr Herz beschwerte, ist bei seinem Angebot augenblicklich von ihr gefallen. Auch Ranieri lächelt erleichtert. Die Kinder sind zu weit entfernt, um sie hören zu können. Sie lehnen mittlerweile an der eisernen Balustrade und setzen das Spiel fort, das sie vorhin am Parkplatz begonnen haben. Stein um Stein landet in dem schnell fließenden Gewässer. Für Priska fühlt es sich an, als sei es schon Jahre her, dass sie neben ihrem Auto gestanden und mit Luis telefoniert hat.
»Aber du musst du auf deine Träume aufpassen. Deine Feinde könnten sie als Schlupfloch benutzen, um hier einzudringen.« Andreas blickt sie ernst an. »Bitte versprich mir, dass du eventuelle Widersacher sofort, das heißt, noch im Traum bekämpfst! Du weißt, wozu du in der Lage bist! Andernfalls wird es nicht nur für dich gefährlich!«
Priska seufzt. Sie wünscht sich, sie wäre von ihren Fähigkeiten ebenso überzeugt wie er. »Ich werde mein Möglichstes versuchen. Am besten schlafe ich überhaupt nicht. Darin habe ich auf jeden Fall mehr Übung als im Kämpfen.« Sie lacht leise, doch Andreas Sinn für Humor scheint etwas verkümmert zu sein.
»Nein, das ist keine Lösung«, sagt er streng. »Zum einen brauchst du deine Kraft und zum Anderen musst du Erfahrungen im Kampf mit den Dämonen sammeln. Sonst bist du, wenn es darauf ankommt, hoffnungslos verloren.« Er holt tief Luft. »Noch eines solltest du wissen, bevor ich euch auf euer Zimmer bringe.« Seine Augen wandern zum Himmel, wo die Sonne allmählich ihr warmes Gold in feuriges Rot wandelt. »An diesem Ort werden nicht nur die Grenzen zwischen den Dimensionen aufgehoben, sondern auch die zwischen den Zeiten.«
»Heißt das, dass das Lokal nicht nur ein Hafen für gestrandete Seelen, sondern außerdem noch eine Art Zeitmaschine ist?«, fragt Priska. Ihre Begeisterung hält sich in Grenzen.
»Ja, so etwas in der Art«, erwidert Andreas. Priska meint, nun doch den Anflug eines Lächelns auf seinem verwitterten Gesicht zu erkennen. »Lasst euch davon nicht aus der Ruhe bringen und euch von keinem der Geister in irgendwelche dubiosen, persönlichen Angelegenheiten hineinziehen. Dann wird euch nichts passieren.«
***
Als sie Andreas die wuchtige Holztreppe zu den Gastzimmern hinauf folgen, geht Ranieri direkt neben Priska. Doch seine Füße bringen die Stufen nicht zum Knarzen. Genau genommen berühren sie die Bretter nicht einmal. Dennoch ist seine Präsenz ebenso stark wie die der Lebenden, die sich vor und hinter Priska befinden. Der erste Stock macht einen verlassenen Eindruck. Nach Andreas‘ Erläuterungen hatte Priska angenommen, dass es hier nur so von Geistern wimmeln würde. Doch der lange Flur, der sich vor ihnen erstreckt, ist gähnend leer. Am anderen Ende spendet ein kleines Fenster mit einer fast blinden Scheibe unzureichendes Dämmerlicht. Draußen – und auch drinnen – übernimmt allmählich die Nacht das Regiment. Andreas betätigt einen Schalter und schon flammen eine Reihe von kleinen, altmodischen Lampen auf, die an den Wänden zwischen den Zimmertüren angebracht sind. Sofort springen Priska die Messingschilder mit den geschwungenen Ziffern in die Augen.
»Früher waren diese Räume sicher alle bewohnt, oder?«, fragt sie ihren Gastgeber. Allerdings muss das mehr als zwanzig Jahre her sein. Priska kann sich nicht erinnern, dass in diesem Gasthaus jemals Zimmer vermietet wurden.
»Oh, sie sind es noch«, erwidert Andreas lächelnd. »Meine Hausgeister, wie ich sie gerne nenne, bevorzugen auch eine feste Rückzugsmöglichkeit. Doch keine Sorge: In Eurem Zimmer gibt es keine weiteren Mitbewohner.« Während die Kinder im Kreis um sie herumlaufen und zwischen dem schrittdämpfenden Läufer in der Mitte und dem knarrenden Holzielen hin- und herspringen, zieht Andreas einen Schlüssel aus der Tasche und steuert auf das Zimmer mit der Nummer 8 zu. Das Schild hängt etwas schief und die Aufschrift erinnert dadurch eher an das Unendlichkeitszeichen als an eine Zahl.
»Warum kann ich diese … Anderen … nicht sehen? Ist der Gang wirklich so leer, wie es scheint?« Priska vermag ihre Unbehaglichkeit nicht abzuschütteln. Die Luft hier oben fühlt sich seltsam an. Sie schwingt und vibriert und die Moleküle drängen sich dicht an dicht. Das Auge möchte einen glauben machen, die Umgebung sei statisch und ohne Leben. Doch tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Sie befinden sich inmitten eines Wirbels aus brodelnden Energien, genährt aus unzähligen Quellen. Die Körper mögen unter der Erde längst verfault und zu kläglichen Knochenhaufen zerfallen sein. Doch die Seelen sind stark, lebendig und rastlos.
»Nein, dein Gefühl trügt dich nicht. Hier geht es zu wie auf dem Bahnhof.« Priska lässt ihre Augen ungläubig über den Gang wandern. Nach wie vor erblickt sie lediglich die drei Kinder und Ranieri, dessen blondes Haar im Schein der Lampe neben Zimmer 8 leuchtet. »Du siehst sie nur, wenn sie es möchten. Aber glaub mir. Das wird noch früher geschehen, als dir lieb ist.« Mit diesen Worten schließt Andreas die Tür auf und macht eine einladende Handbewegung.
»Bitte hereinspaziert!« Ranieri gleitet vor Priska durch den Eingang und imitiert dabei den Gang eines Lebenden nahezu perfekt. Doch Eleonore legt offenbar keinen gesteigerten Wert darauf, so wenig übersinnlich zu wirken wie möglich. Ihr Geisterkörper durchdringt mühelos die Wand neben ihnen. Andreas, Elena und Jeremias scheinen sich daran nicht zu stören, doch auf Priska wirkt diese Aktion befremdlich. Auch noch nach allem, was sie bereits zusammen erlebt haben.
»Ich stelle gleich noch zwei Reisebetten auf. Im Doppelbett könnte es sonst etwas eng werden.« Andreas schmunzelt. Zumindest über ein Quäntchen Humor verfügt er also doch. Unwillkürlich blickt Priska zu Ranieri hinüber und spürt, wie ihr die Hitze in die Wangen steigt.
»Andreas hat das bestimmt ausschließlich auf diejenigen unter uns bezogen, die schlafen müssen«, lächelt ihr Exfreund verschmitzt.
»Natürlich.« Mit gespielter Entrüstung hebt Andreas seine Augenbrauen. »Was denkt ihr denn von mir?« In einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, wäre Priska überglücklich, mit Ranieri ein Zimmer teilen zu dürfen. Gleich, ob als Geist oder als Mensch aus Fleisch und Blut. Es ist seine Seele, die sie liebt. Immer noch, wie sie beinahe erschrocken feststellt. Mit seinem Erscheinen in der realen Welt hat er von einem Moment auf den anderen den steinernen Wall, den Priska um ihre alten Gefühle errichtet hat, zerschlagen. Bunte, liebestrunkene Schmetterlinge mischen sich unter die dunklen Phantome, die Priska seit Jahren den Schlaf rauben und deretwegen sie hier ist. Liebe, Angst, Sehnsucht, Gewissensbisse und Verwirrung kämpfen in ihrem Inneren um die Vorherrschaft.
»Ui, ist das gemütlich hier«, reißt Elena sie aus ihrer Melancholie. Ihre Tochter und Jeremias rennen hinüber zu dem Schaukelstuhl, der am Fenster steht, und werfen sich lachend hinein. Er ächzt ein wenig, als die beiden Kinder ihn in Bewegung setzen. Sowohl die Lehne, als auch die geschwungenen Kufen sind mit kunstvollen Schnitzereien versehen. Das Polster mit dem Rosenmuster wirkt zwar altmodisch, ist aber gut in Schuss. Nicht nur der Schaukelstuhl, sondern auch die übrigen Möbel in dem Raum scheinen mindestens hundertfünfzig Jahre alt und allesamt aus dunklem Eichenholz gefertigt zu sein. Sie verleihen dem Zimmer ein düsteres und zugleich heimeliges Ambiente. Je nachdem, für welche Stimmung man sich gerade empfänglicher zeigt. Priskas Blick wandert von dem Fenster mit den weißen Vorhängen, die einen luftigen Kontrast zu den schweren Möbeln bilden, hinüber zu dem massigen Bett. Auf der Tagesdecke mit den orientalisch anmutenden Ornamenten hat Eleonore Platz genommen. Sie wirkt etwas verloren zwischen all den Kissen, deren Konturen sich durch ihren Körper abzeichnen. Aus irgendeinem Grund wird sie wieder etwas transparenter. Im Gegensatz zu Ranieri, der an der vertäfelten Wand lehnt und sich sehr deutlich von dem schokoladenbraunen Holz abhebt. Es gibt weder einen Fernseher, noch ein Telefon. Wären die beiden Nachttischlampen und die Deckenleuchte nicht, würde dieses Zimmer ohne Stromversorgung auskommen. Priska überlegt, ob sie den ovalen Ganzkörperspiegel, der neben der Eingangstür hängt, abhängen soll. Doch es würde nichts helfen. In diesem Haus brauchten die Geister keine Spiegel, um in Erscheinung zu treten.
»Ich hole mal eben die Klappbetten«, informiert Andreas sie und verlässt das Zimmer. Priska schlendert zum Fenster hinüber und öffnet einen der Flügel. Jetzt, wo die Sonne hinter den Bergen verschwunden ist, hat es merklich abgekühlt. Ein frischer Lufthauch weht ins Zimmer. Draußen zirpen die Grillen. Es ist nicht völlig dunkel. Helle Sterne leuchten am Firmament und lassen die Umrisse der Berge erahnen. Priska sehnt sich nach den schroffen Felsen dahinter und nach der Freiheit weiter oben. Hier unten im Tal und am Fuß der Berge, fühlt sie sich eher bedrängt und eingeengt von den gewaltigen, bewaldeten Hängen, die vor ihr aufragen.
Ein dumpfes Klopfen lässt Priska herumfahren. Und auch das Lachen der Kinder verstummt. Eine rothaarige Frau in einem langen, mitternachtsblauen Gewand lässt langsam ihre weiße Hand von der geöffneten Tür gleiten. Hinter ihr steht eine weitere Frau, vielmehr noch ein Mädchen, und lugt ängstlich hinter der dem schmalen Rücken der Älteren hervor. Doch ihr Antlitz liegt fast gänzlich im Dunklen.
»Bitte entschuldigt die Störung«, ergreift die Rothaarige das Wort. Ihre blassen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. »Aber wir wohnen im Zimmer nebenan. Und die Höflichkeit gebietet es, dass wir euch als neue Nachbarn begrüßen.« Sie betritt den Raum und das Mädchen folgt ihr wie ein Schatten. Der Lichtkegel der Deckenlampe erfasst die Halbwüchsige und ein eisiger Schock durchfährt Priska. Die linke Gesichtshälfte des Mädchens würde einem Engel Konkurrenz machen. Feingemeißelte Züge, ein smaragdfarbenes Auge mit langen Wimpern, ein filigraner Nasenflügel und rosa Lippen. Rotgoldene Locken umrahmen die zarte Wange. Die andere Seite dieses ehemals zauberhaften Antlitzes aber macht den berückenden Anblick schlagartig zunichte. Schlaff hängt das Lid über dem zweiten Auge. Der rechte Nasenflügel ist seltsam eingedellt, und obwohl das Mädchen versucht, ihre Mundwinkel nach oben und in ein Lächeln zu zwingen, bleibt diese Lippenpartie, die in wulstiger, grauer Narbenhaut eingebettet ist, unbeweglich. Die Mimik wirkt maskenhaft und bedrohlich, obwohl das Mädchen doch nur freundlich sein möchte. Die rechte Seite ihres Kopfes sieht aus wie kahlrasiert. Dort, wo auf der anderen Seite langes, weiches Haar sich bis weit über die Schultern ergießt, findet sich hier nur blanke Kopfhaut. Priska wirft einen besorgten Blick zu den Kindern hinüber, doch auf deren Gesichtern spiegelt sich ausschließlich freudige Neugier.
»Ich bin Dorothea«, stellt sich die Frau in dem blauen Kleid vor. Auch ihre Augen sind grün. Sie mustert die Anwesenden eingehend. Forsch und zugleich herzlich. »Und das ist meine Tochter Amalia.« Sie fasst das Mädchen sanft bei den Schultern und zieht sie noch mehr ins Licht. Auf das entstellte Äußere ihres Kindes geht sie mit keinem Wort ein. Priska findet das durchaus respektabel und lobenswert, dennoch kommt ihr Dorotheas Gebaren etwas merkwürdig vor. Gut, sie hat auch noch nicht allzu viel Erfahrung im Umgang mit Geistern. Und es steht außer Frage, dass Amalia und Dorothea schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen.
»Ich bin Elena und das ist Jeremias«, durchbricht Priskas Tochter die betretene Stille. Sie läuft zuerst auf Amalia zu und reicht ihr die Hand, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Weiße, lange Finger legen sich um Elenas Rechte. »Hihi, du fühlst dich genauso kribbelig an wie Eleonore«, kichert das Kind. »Die sitzt da drüben auf dem Bett.« Sie deutet zu dem Geistermädchen hinüber, die das Szenario offenbar lieber aus einer gebührenden Entfernung beobachtet. Dann wendet sich Elena erneut Amalia zu. »Du bist wunderhübsch! Wie eine Prinzessin!« Sie lächelt das größere Mädchen bewundernd und arglos an. Jeremias tritt neben sie und ergreift ebenfalls Amalias Hand. Sein verklärter Gesichtsausdruck lässt darauf schließen, dass er Elenas Meinung teilt. Priska ist erleichtert. Obwohl sie sich nicht erklären kann, warum die Kinder Amalia mit anderen Augen sehen als sie. Oder ist nur sie es, die Amalias verunstaltete Gesichtshälfte wahrnimmt? Am Ende handelt es sich gar nur um eine verrückte Einbildung? Unsicher blickt sie zu Ranieri hinüber. Er macht einen ebenso verwunderten Eindruck wie sie und zuckt leicht mit den Schultern. Dann schenkt er ihr ein beruhigendes Lächeln.
»Mach dir nicht so viele Sorgen«, hört sie seine Stimme in ihrem Kopf.
»Ich bin Ranieri«, sagt er laut zu den beiden Geisterfrauen. Priska bemerkt das Funkeln in Dorotheas katzenhaften Augen und sofort verspürt sie einen kleinen, eifersüchtigen Stich in ihrem Herzen. ›Hey, du bekloppte Nuss‹, schilt sie sich stumm. ›Du bist eine verheiratete Frau. Und außerdem weilst du in einer völlig anderen Dimension als all die Geister.‹ Sie atmet tief ein und stellt sich ebenfalls vor, vermeidet es aber, die beiden Erscheinungen zu berühren. In diesem Moment kommt Andreas mit zwei Klappbetten unterm Arm zurück. Er wirft einen prüfenden Blick in die Runde und sagt dann mit einem breiten Grinsen:
»Wie ich sehe, habt ihr euch schon bekannt gemacht.« Er räuspert sich und legt Dorothea und Amalia jeweils einen Arm um die Schultern. »Ich wüsste nicht, wie ich ohne die beiden zu Rande käme. Sie sind die guten Seelen des Hauses.«
›Wie passend‹, denkt Priska und muss unwillkürlich schmunzeln. Zwar kennt keiner der Anwesenden, außer Ranieri vielleicht, den Grund für ihren Anflug von Heiterkeit, doch das Eis ist plötzlich gebrochen und alle lächeln.
»Ich bringe rasch etwas Gebäck und Tee«, bietet Dorothea eifrig an. »Und dann macht ihr es euch ein wenig gemütlich. Hilfst du mir, Amalia?« Ihre Tochter nickt. Und schon rauschen die beiden aus dem Zimmer. Andreas wartet, bis die Geisterfrauen außer Reichweite sind. Dann tritt er etwas näher an Priska heran.
»Ihr müsst mir versprechen, dass ihr weder Dorothea, noch Amalia auf ihren …ähm…Daseinszustand ansprecht.« Priska sieht ihn fragend an.
»Sie sind die einzigen Wesenheiten hier, die nicht wissen, dass sie tot sind.« Jetzt sieht sogar Ranieri so aus, als müsste er vor Überraschung nach Luft schnappen. Doch auch er atmet ja schon lange nicht mehr. In Priskas Kopf stolpern die Gedanken übereinander und ihr wird flau in der Magengrube.
»Wie kann das sein?«, flüstert sie. »Wie können sie es nicht wissen? Und was ist mit dem Mädchen passiert?« Ihre Fragen scheinen Andreas unangenehm zu sein. Er lässt die Tür nicht aus dem Blick, während er leise antwortet:
»Dorothea ist eine perfekte Verdrängungskünstlerin. Und das mit dem Brand…« Er stoppt abrupt. Die beiden Frauen sind zurück. Dorothea stellt vorsichtig das Tablett mit Tassen, Tellern, Besteck und einer Gebäckschale auf dem wuchtigen Schreibtisch neben dem Kleiderschrank ab. Amalia trägt die Teekanne und sie beginnt sogleich damit, die Tassen mit dem dampfenden Getränk zu füllen. Pfefferminzduft erfüllt den Raum. Priska kann es nicht fassen, dass die energetischen Kräfte der beiden so stark sind, dass die mühelos mit diesen realen Alltagsgegenständen hantieren können. Wenn Dorothea und Amalia nun auch noch selbst von Tee und Gebäck kosten, sollte sie alles, was sie über Gespenster zu wissen glaubte, schnellstmöglich vergessen. Doch die junge Geisterfrau hat nur in vier Tassen eingeschenkt. Diese reicht sie nun zusammen mit je einem Gebäckstück, das sie auf den Untertellern drapiert hat, Priska, Elena, Jeremias und Andreas. Als Priska ihren Tee entgegennimmt, hat sie kurz den Eindruck, die Tasse würde frei im Raum schweben. Doch dann wird sie sich der weißen, schlanken Finger gewahr, die das Geschirr geschickt balancieren. Priska achtet penibel darauf, die Geisterhand nicht zu berühren. Es wäre im Moment zuviel für sie. Kurz zögert sie, bevor sie die Tasse an ihre Lippen setzt.
»Der Tee ist wirklich vorzüglich, Priska«, ermuntert Andreas sie und nippt wie zum Beweis genießerisch an dem heißen Getränk. »Von Dorotheas und Amalias Gastgeberqualitäten kann auch ich mir noch eine Scheibe abschneiden.« Und tatsächlich: Der Pfefferminztee ist stark und süß und erfüllt Priska mit behaglicher Wärme. Elena knabbert bereits zufrieden an ihrem Plätzchen. Mutig nimmt auch Priska einen Bissen von dem hellen Keks mit der dunkelroten Füllung. Sie schmeckt feines Butteraroma, einen Hauch von Vanille und Johannisbeermarmelade. Derweil sie genüsslich kaut, fällt die Anspannung langsam von ihr ab. Und das, obwohl nun die Geister, die sie wahrnehmen kann, schon nicht mehr in der Unterzahl sind. Von den Unsichtbaren ganz zu schweigen. Während die Lebenden ihren Tee schlürfen, gesellt sich Ranieri zu Eleonore auf die Bettkante und sie kuschelt sich sogleich in seine Armbeuge. Auch sein Körper wirkt inzwischen um einiges transparenter als noch vor wenigen Minuten. Er lächelt sie an, doch sogar seine Gesichtszüge verblassen allmählich.
»Was ist mit euch!«, ruft Priska ihm beinahe panisch zu. Sie könnte es nicht ertragen, wenn er sie ein zweites Mal verlässt.
»Trotz der starken Energien hier, ist die Materialisierung über einen längeren Zeitraum sehr anstrengend«, antwortet er sanft. Seine Stimme klingt bereits wieder so, als sei er viel weiter von ihr entfernt als nur ein paar Meter. Priska spürt, wie Angst in ihr aufsteigt. Verlustangst. »Gönn uns eine kleine Verschnaufpause, Priska. Bald wirst du uns wieder sehen können. Und auch wenn deine Augen mich nicht wahrnehmen: Ich bin trotzdem hier.« Seine letzten Worte hängen noch in der Luft, als seine körperliche Erscheinung schon längst verschwunden ist. Perplex starrt Priska auf die leere Bettkante.
***
Elenas Locken kitzeln Priska an der Nase und sie muss sich sehr bemühen, um den Niesreiz zu unterdrücken. Ihre Tochter schläft tief und fest in Priskas Armen. Wie immer hat sich das Kind in der Embryohaltung eingeigelt. Ihr runder Rücken drückt Priska gegen Brust und Bauch. Elenas Kopf ist viel schwerer, als man vermuten würde. Er ruht auf Priskas rechtem Arm, der im Gegensatz zu Priska ebenfalls längst eingeschlafen ist. Auf dem Feldbett schnarcht der kleine Jeremias. Seit drei Stunden versucht Priska nun vergeblich, in den Schlaf zu finden. Die Ereignisse des Tages scheinen inzwischen weit zurück zu liegen und der Konfrontation mit Luis bohrenden Fragen ist sie wenig galant ausgewichen, indem sie gleich Elena den Hörer in die Hand gedrückt hatte. Natürlich hat ihm ihre Tochter von Jeremias erzählt und auch von der Gaststätte, in der sie übernachten. Die Sätze sprudelten nur so aus ihr heraus. Und zwar so schnell, dass Luis offensichtlich nicht ganz folgen konnte. Anders vermag es sich Priska nicht zu erklären, dass er überhaupt nicht nachhakte, als er zum Ende des Telefonats kurz seine Frau an der Strippe hatte. Er wünschte ihnen nur eine gute Nacht und bat sie, auf sich aufzupassen. Er würde voraussichtlich in zwei Tagen nachkommen. Und sich dann einem Haufen Geister gegenübersehen. Insbesondere das Zusammentreffen mit Ranieri dürfte sich interessant gestalten.
Ein leises Knarzen reißt Priska aus ihren Gedanken. Alarmiert schlägt sie die Augen auf. Der fahle Mondschein, der durch das geöffnete Fenster dringt, lässt Amalias Haut noch weißer und die Narben, die einmal ihre rechte Gesichtshälfte waren, noch furchiger erscheinen. Sie sitzt im Schaukelstuhl und sieht versonnen in den ovalen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Priska folgt ihrem Blick und ein kalter Schauer läuft ihr über Nacken und Rücken. Das Spiegelbild des Mädchens ist vollkommen. Kein Makel verunstaltet die alabasterfarbene Haut. Zuvor haben ihre Lippen nur eine Parodie eines Lächelns zustande gebracht. Nun aber ist es echt. Strahlend und einnehmend. Ebenso wie die grünen Augen, die sich aus dem Spiegel heraus auf Priska richten. Warum nur wirkt dieses vollendet schöne Gesicht viel unheimlicher als die Entstellungen außerhalb der gläsernen Reflexionsfläche?
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