Wo die Zeiten sich kreuzen

»Nein, ich will nicht zurück ins Waisenhaus! Bitte, bitte nicht!«

Jeremias Flehen rührt Priska zutiefst. Sie wirft einen Blick in den Innenspiegel und ihr Herz macht erneut einen Satz. Noch immer hat sie sich nicht daran gewöhnt, dass der Junge Ranieri wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Es fühlt sich an, als befinde sich ein Teil von ihr in einer Art Zeitschleife. Immer, wenn sie in Jeremias  unverwechselbare Augen sieht, reißt ein Strom aus Erinnerungen sie aus dem Hier und Jetzt. Und sie werden von Mal zu Mal intensiver. Mit jeder weiteren Stunde, die sie zusammen sind und mit jedem zurückgelegten Kilometer, der sie näher an die alte Heimat bringt, überlappen sich Vergangenheit und Gegenwart ein Stück mehr. Hin und wieder zuckt das Bild, das Priskas Netzhäute an ihr Gehirn weitergeben. Für einen kurzen, aber gefährlichen Moment verschwimmt alles und sie sitzt, selbst wieder ein kleines Mädchen, mit Ranieri im Kastanienbaum. Gemeinsam blicken sie ins Tal hinunter. Damals waren ihr die drei Jahre Altersunterschied riesig erschienen. Geliebt hat sie ihn schon immer. Zunächst wie einen großen Bruder.

Krampfhaft versucht Priska, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Es gebe keinen ungünstigeren Moment für Tagträume. Nie würde sie es sich verzeihen, wenn sie aufgrund ihrer Fahrlässigkeit mit einem entgegenkommenden Wagen kollidieren oder die Böschung hinunterrasen. Zum Glück fällt das Gelände neben ihnen nicht so steil ab. Priska konzentriert sich auf das Lenkrad in ihren Händen und das Gefühl, in einem fahrenden Auto zu sitzen. Allmählich wird der blaugrüne Eisack grau und schließlich wieder zu der Straße, auf der sie gleich die italienische Grenze passieren. Noch einmal darf ihre innere Kamera nicht in die Vergangenheit schwenken. Inzwischen herrscht viel Verkehr auf dem Zubringer zur Brennerautobahn. Und tatsächlich freut sich Priska über jedes Fahrzeug, das ihnen entgegenkommt. Ebenso wie über das satte Grün der Wiesen und die Bauern, die dort ihr Tagwerk verrichten. All diese Dinge zeigen ihr, dass sie der alptraumhaften Parallelwelt entkommen sind. Vorerst zumindest.

»Sie werden bestimmt nach dir suchen, Jeremias.« Bis sie Matrei hinter sich gelassen hatten, verschwendete Priska keinen einzigen Gedanken an die Zukunft. Es war nur wichtig, dass sie jenem verfluchten Ort so schnell wie möglich den Rücken zukehrten und Jeremias bei Bewusstsein blieb. Er erholte sich erstaunlich schnell von seinem Martyrium. Nun, da er befreit war von der tödlichen Parasitin, deren Leib noch vor ihren Augen zu Staub zerfiel, regenerierte sich sein Körper im Zeitraffer. Entgeistert starrte Priska auf die leere Stelle, an der das Monstrum eben noch gelegen hatte. Nichts deutete mehr auf den Kampf hin, der ihnen fast das Leben gekostet hätte. Als sei alles, was in den vergangenen Stunden geschehen war, nur ihrer Phantasie entsprungen. Der Nebel über der Schlucht löste sich auf und die Sonne lugte zaghaft wieder hinter den Wolken hervor. Gemeinsam blickten sie auf die Sill hinunter, die sich sanft durch die felsige Landschaft schlängelte. Der Schrecken hatte sich verloren. Geblieben war nur das vertraute Schwindelgefühl, das Priska am Rande dieses Abgrundes immer erfasste. Lediglich das sanfte Rauschen der Birkenblätter erinnerte entfernt an die brandenden Wogen aus dem Traummeer. Das Feenhäuschen in Elenas Händen hatte aufgehört, zu leuchten. Niemand würde nunmehr von seinem niedlichen Äußeren auf das magisches Innenleben schließen. Auf Priskas linken Arm gestützt und noch etwas wackligen Beinen schlurfte Jeremias mit ihnen zusammen zum Parkplatz zurück. Erleichtert registrierte Priska, dass das Marterl mit der düsteren Prophezeiung verschwunden war. Doch Marlenes silberner Mercedes stand noch da. Priska baute den Kindersitz aus und montierte ihn auf der Rückbank ihres Autos. Als sie Elena und Jeremias angeschnallt und ihnen jeweils ein Käsebrot und einen Apfel in die Hände gedrückt hatte, hörte sie hinter sich Motorengeräusch. Ihr Herzschlag setzte kurz aus, als ein blauer Kombi neben ihr hielt. Aus dem Auto sprangen ein Mann, eine Frau und zwei Jungen. Sie warfen ihr ein kurzes »Hallo« zu, bevor sie in Richtung Schlucht liefen. So viel Normalität erschien Priska in diesem Moment erst recht surreal. Doch sie spürte, wie ihr Körper vibrierte. Die neue Zuversicht fühlte sich fast an, als sei sie frisch verliebt.

»Nein, ich glaube nicht, dass sie mich suchen«, unterbricht Jeremias ihre Gedanken. Seine helle Bubenstimme klingt energisch. »Marlene hat mich nicht heimlich geklaut.« Seine Wortwahl lässt Priska schmunzeln. »Ich hab‘ nicht gehört, was sie mit Frau Meier geredet hat. Aber es war ok, dass ich mitgehe.«

Doch gleich, welches Arrangement die Dämonin in Menschengestalt und die Leiterin des Kinderheims getroffen hatten – sie können nicht einfach untertauchen. Zumindest nicht langfristig. Aber vielleicht haben sie noch etwas Zeit, bevor sie die Behörden einschalten müssen. Nachdenklich blickt Priska auf die Autokolonne vor sich. Auf Höhe des Einkaufszentrums, das die Grenze zwischen Österreich und Italien markiert, hat sich ein Stau gebildet. Früher hätte sie sich über den stockenden Verkehr und die sinnlos vergeudeten Minuten aufgeregt. Jetzt aber fühlt sie sich fast geborgen inmitten der endlos erscheinenden Schlange sich aneinanderreihender Fahrzeuge. Als seien diese in der Lage, sie von allem Bösen abzuschirmen.

„Hat Frau Meier etwas darüber gesagt, wann ihr euch wiederseht?“ Angestrengt versucht Priska, ihre Fragen so zu formulieren, dass sie Jeremias nicht verwirren. Nur gut, dass sie dank Elena halbwegs vertraut ist mit kindlichen Sprachwelten. Sie wirft einen Blick in den Innenspiegel. Ihre Tochter schlummert friedlich. Normalerweise schläft Elena eher zu wenig als zu viel. Doch die Ereignisse der letzten Stunden haben ihr arg zugesetzt. Hastig schluckt Priska die Selbstvorwürfe, die ihren Magen verklumpen und nun nach oben in ihre Kehle drängen, hinunter.

„Nein. Sie hat mir über den Kopf gestreichelt. Und mir „Alles Gute“ gewünscht. Dann hat sie das Geld eingesteckt und ist zurück ins Haus gegangen.“ Priska spürt, wie eine jähe Wut sie erfasst und ihre Schuldgefühle hinfort spült. So ist es also gelaufen. Die Leiterin des Kinderheims hat sich bestehen lassen und leichtfertig einen ihrer Schutzbefohlenen einer wildfremden Person überlassen. Gewiss in vollem Bewusstsein darüber, dass hier etwas faul war. Fassungslos fragt sich Priska nicht zum ersten Mal, wo auf dieser Welt es noch Sicherheit und echtes Vertrauen gibt. Das ist ein Kind – Herrgott nochmal! Darüber, wie Frau Meier diese Aktion vertuscht haben mochte und wen sie hierfür noch alles ins Boot geholt hat, macht sich Priska momentan lieber keine Gedanken. Da sie ohnehin gerade stehen, schnallt sie sich kurzerhand ab und dreht sich zu Jeremias um. Sie ergreift die kleine Kinderhand, die sich ihr entgegen streckt, und drückt sie sanft.

„Ich verspreche dir, dass du nie wieder zurück musst! Wir werden eine Lösung finden!“

Es ist an der Zeit, dass dieser Junge endlich Kind sein darf. Und Priska schwört sich, dass sie ihr Möglichstes dafür tun wird. Jeremias hat mit seinen fünf Jahren bereits mehr ertragen müssen, als andere in ihrem ganzen Leben. Als Priska erfahren hat, dass seine Eltern bei einem Autounfall tödlich verunglückt waren, versetzte ihr das einen dumpfen Schlag in die Magengrube. Zwar hatte sie mit Ranieris jüngerer Schwester seit seinem Tod keinen Kontakt mehr, aber sie kann sich noch sehr gut an das sanftmütige Mädchen mit dem goldenen Haar erinnern. Und an ihre irisierenden Augen, die denen des Bruders so sehr glichen. Ihr ist, als sei es gestern gewesen, dass sie mit Lara und Ranieri in den Weinbergen Verstecken spielte und für das jüngere Mädchen Gänseblümchenketten flocht. Niemand hätte damals ahnen können, dass zwanzig Jahre später die gesamte Familie Moroder ausgelöscht sein würde. Bis auf einen kleinen Jungen namens Jeremias, der seinerzeit noch nicht einmal als Gedanke im Kopf seiner Mutter existierte. Verstohlen wischt sich Priska eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Warum weinst du?« Wie fast alle Kinder verfügt auch Jeremias offenbar über eine scharfe Beobachtungsgabe.

»Ich kannte deine Mutter. Und Deinen Onkel. Und ich bin traurig darüber, dass sie nicht mehr da sind.« Priska fragt sich, was mit den Großeltern väterlicherseits geschehen sein mag. Leben auch sie nicht mehr? Oder warum sonst ist Jeremias im Kinderheim gelandet? Vorerst will sie jedoch nicht weiter in ihn dringen. Es würde an ihrer aktuellen Lage ändern. Und der Tod ist ohnehin schon zu allgegenwärtig. Sie müssen ihm nicht noch mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen.

»Bist du jetzt meine Familie? Und Elena?« Jeremias spricht so leise, dass Priska ihn kaum verstehen kann. Doch die zaghafte Hoffnung in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

»Ja«, sagt sie schlicht und blendet dabei alle etwaigen Konsequenzen bewusst aus.

***

»Jep, wir sind heil in Klausen angekommen.« Während Priska mit Luis telefoniert, beobachtet sie Elena und Jeremias dabei, wie sie jauchzend Steine über die Brüstung in den Eisack werfen. Die Strömung ist stark und der Fluss verschluckt die Kiesel sofort. Er ist heute flaschengrün und die kleinen Schaumkronen glitzern in der spätherbstlichen Sonne.

»So ein klitzekleines Lebenszeichen von unterwegs aus wäre auch nicht schlecht gewesen.« Luis klingt angesäuert und Priska kann es ihm nicht verdenken. Doch sie hat schlichtweg keine Ahnung, wie sie ihrem Mann schonend beibringen soll, dass sie nebenbei einen Abstecher in andere Dimensionen unternommen, eine Dämonin erledigt und ein potentielles Adoptivkind aufgelesen hat. Mal ganz davon abgesehen, dass er sie nach einem solchen Reisebericht erst recht für übergeschnappt halten würde. Im Lügen ist sie jedoch auch keine Koryphäe und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in irgendwelche Widersprüche verstrickt. Für’s Erste hofft sie einfach darauf, dass Luis sie keiner umfassenden Befragung unterzieht.

»Ich weiß. Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.« ›Eigentlich haben wir eine 1a-Punktlandung hingelegt. Wenn man bedenkt, was alles passiert ist.‹, wäre ihr fast noch herausgerutscht. Doch sie beißt sich rechtzeitig auf die Zunge.

»Egal. Der Drops ist gelutscht. Hauptsache, ihr seid am Ziel und es geht euch gut.« Luis scheint kurz nachzudenken. »Kannst du Elena ans Telefon holen?«

»Sie ist gerade dabei, einen halben Steinbruch im Eisack zu versenken. Ist es ok, wenn sie dich heute Abend anruft?« Priska befürchtet, dass Elena ihrem Vater gleich brühwarm von ihrem neuen Freund erzählt. Was momentan eher kontraproduktiv wäre. Luis lacht amüsiert auf, doch Priska hat das Gefühl, dass er bereits ahnt, dass etwas im Busch ist.

»Ja, passt. Geht erstmal essen und sucht euch ein Zimmer.«

»Alles klar. Dann bis nachher!« Priska ist erleichtert, dass Luis keine Grundsatzdiskussion vom Zaun bricht.

»Bis später, mein Schatz! Passt auf euch auf!«

Mit Jeremias an der einen und Elena an der anderen Hand mischt sich Priska unter die Menschentraube, die der Altstadt entgegenpilgert. Die meisten von ihnen sind Touristen, die an den Tagen zwischen ihren Wandertouren das Eisacktal erkunden. Hier, jenseits des Brenners, zeigt sich der November von einer ganz anderen Seite. Solch goldene Herbsttage hält in Deutschland meist nur der Oktober bereit. Kein Wunder, dass sich zu dieser Zeit so viele von Priskas Landsleuten im milderen Südtirol tummeln. Eine Weile müssen sie der stark bevölkerten Hauptstraße folgen. Doch trotz des Gewimmels fühlt sich Priska augenblicklich von dem besonderen Flair dieser uralten Stadt umfangen. Dicht an dicht schmiegen sich die mit Zinnen und zahlreichen Erkern versehenen Häuser. Üppige Blumenkästen hängen von winzigen Balkonen. Steinerne Treppen führen zu verborgenen Türen und schmiedeeiserne Tore zu verwunschenen Gärten. Zart getünchte Fassaden wechseln sich ab mit dicken, mittelalterlichen Mauern. Zwischen den Häusern blitzen am Horizont die bunten Weinberge hervor. Die majestätischen Dolomiten selbst sind von hier aus allerdings nicht zu sehen. Das Kopfsteinpflaster ist ausgetreten von den abertausenden von Füßen, die über die Jahrhunderte hinweg hier entlang gelaufen sind. Doch seinem schmeichelnden Charme tut dies keinen Abbruch. Bald schon haben Priska und die Kinder die verwinkelte und unscheinbare Nebengasse erreicht, die zu jenem Lokal führt, das nicht nur köstliche Pasta, sondern auch zahlreiche, in Wehmut getränkte, Erinnerungen auf der Karte hat.

An der Straßenecke sitzt ein Bettler. Er streckt ihnen seinen ausgebeulten, noch leeren Hut entgegen. Priska spürt, wie die Kinder ihre beiden Hände fester umklammern. Eine böse Vorahnung beschleicht sie. Und obwohl ihr Gewissen sie dazu auffordert, gibt sie diesmal kein Geld, sondern hastet an der in Lumpen gekleideten Gestalt vorbei. Das Fluchen des Bettlers klingt wie das Knurren eines wilden Tieres. Priska weiß, dass sie ihren Weg unbeirrt fortsetzen sollte. Trotzdem dreht sie sich um. Sie muss der Gefahr ins Gesicht blicken. Die dunklen Augen des Bettlers flackern rötlich. Er verzieht den zahnlosen Mund zu einem boshaften Grienen. Dann spuckt er ihnen hinterher. Marlenes Drohung bewahrheitet sich. Es gibt tatsächlich mehr von ihrer Sorte und sie haben nicht aufgehört, Priska zu jagen. Doch der alte Mann macht keine Anstalten, sich zu erheben. Nur seine glühenden Augen folgen ihr. Priska beschleunigt dennoch ihre Schritte und die Kinder stolpern neben ihr her. Beide sind blass und zittern. Doch sie sagen kein Wort. Erklärungen sind überflüssig. Sie wissen, was dort an der Ecke und in den dunklen Winkeln zwischen den Häusern auf sie lauert. Auf Höhe eines Buchladens drosseln sie kurzzeitig ihr Tempo. Alle drei sind sie völlig außer Atem. Die Verkäuferin arrangiert gerade die Auslage neu. Sie trägt eine Brille und die dunklen Haare hochgesteckt. Buchhandlungen üben auf Priska eine magische Anziehungskraft aus. Sie hofft, dass die beruhigende, heimelige Ausstrahlung auch diesmal ihre Wirkung nicht verfehlt. Während sie das Schaufenster und die dargebotenen Bücher studiert, hebt die Dame mit dem Dutt langsam ihren Kopf. Die Kinder schreien erschrocken auf. Hinter den Gläsern der randlosen Brille lodern Höllenfeuer. Geschockt und nach Luft schnappend weicht Priska zurück. Ihre Handflächen sind schweißnass. Weil sie befürchtet, dass Elenas und Jeremias Finger ihr entgleiten können, drückt sie so fest zu, dass es beinahe schmerzen muss. Doch die beiden beklagen sich nicht. Starr vor Angst blicken sie auf den Dämon im Schaufenster. Da registriert Priska eine Bewegung hinter sich. Der verschwommene Schatten des Angreifers spiegelt sich in der Fensterscheibe. Mit einem Satz springt Priska nach links weg und zerrt die Kinder mit sich. Elena wird von dem plötzlichen Ruck zu Boden gerissen. Krampfhaft versucht Priska, ihre Panik in Schach zu halten und hilft ihrer Tochter hoch. Aus dem Augenwinkel sieht sie, dass der dunkle Schemen nur noch einen halben Meter von ihnen entfernt ist.

»Lauft!«, schreit sie und sprintet los. Die Kinder schwingt sie dabei nach vorn. Ein makabres »Engelein-flieg-Spiel«. Denn diesmal geht es um Leben und Tod. Sobald die Kleinen wieder Boden unter den Füßen haben, rennen sie neben ihr her. Das hallende Echo der Schritte hinter sich signalisiert ihr, dass der Verfolger ihr dicht auf den Fersen ist. Stur blickt sie nach vorn. Sie müssten gleich da sein. Im Lokal sind sie sicher. Darauf vertraut sie. Es darf einfach nicht anders sein. Plötzlich löst sich vor ihr ein weiterer Schatten aus der dunklen Nische unter einer Steintreppe. Wie von Sinnen hetzt Priska die leere Gasse entlang, die mit einem Mal sämtliche Sonnenstrahlen zu absorbieren scheint. Statt dessen steigt vom Boden ein geisterhafter Nebel auf. Priska betet inständig, dass sie nicht schon wieder in einer Parallelwelt gelandet sind. In diesem Moment legt sich eine schwere Hand auf ihre Schulter. Sie fährt herum und blickt in das zerfurchte Gesicht des Bettlers. Seine Haut ist dünn wie Pergamentpapier und spannt über den hohlen Wangenknochen. Dort, wo vorher rote Augen leuchteten, sind nur dunkle Höhlen. Doch Priska spürt den tödlichen Sog, der sie in das Innere des Schädels und ins Jenseits ziehen will.

»Warum versuchst du noch immer, zu entkommen? Wenn du einen von uns besiegst, wird er von zwei neuen Gesandten ersetzt. Du kannst dich nicht retten. Und diese Kinder auch nicht. Gib endlich auf!« Seine Stimme klingt hohl. Dennoch dröhnt sie in Priskas Gehörgängen. Ihr Trommelfell schmerzt. Neben ihr schluchzt Elena. Jeremias zittert wie Espenlaub. Priskas Verzweiflung weicht rasender Wut. Sie spuckt nun ihrerseits dem Dämon in die totenkopfgleiche Visage und die Kreatur zuckt zurück.

»Ich werde euch alle vernichten«, zischt Priska hasserfüllt. Die Hand auf ihrer Schulter verliert an Gewicht. Sekunden später wiegt sie nicht mehr als eine Feder und es ist ein Leichtes für Priska, sie abzuschütteln. Doch ihr Triumphgefühl hält nicht lange an. Dutzende von Schatten umzingeln sie inzwischen. Und sie rücken immer näher. Offensichtlich haben sie es nun auf Jeremias und Elena abgesehen. Konturlose Arme, mehr Nebelschwaden denn Gliedmaßen, greifen nach ihnen. Eilig schiebt Priska sich vor die beiden Kinder, die nun zwischen ihr und einer Hauswand eingekeilt sind. Just in diesem Moment ertönt ein knarrendes Geräusch hinter ihnen und ein kühler Windzug fährt Priska in den Rücken. Dann sind die Kinder fort. Entsetzt fährt Priska herum. Eine knochige Hand packt ihren Arm und zerrt sie durch die geöffnete Tür, die kurz darauf krachend ins Schloss fällt.

Mit klopfendem Herzen versucht Priska, sich zu orientieren. Es ist dunkel und riecht modrig.

»Ihr seid in Sicherheit«, dringt eine leise und vertraute Stimme an ihr Ohr. Im selben Augenblick flackert an der Decke eine altersschwache Lichtröhre auf und der dunkle Gang wird erkennbar. Vor ihr steht der Besitzer des Lokals, das sie gesucht hat. Sein Rücken ist bucklig und das Haar inzwischen schlohweiß, doch die kleinen, wasserblauen Augen in dem wettergegerbten Gesicht blicken wach und freundlich. Neben ihm stehen Elena und Jeremias. Sie wirken zugleich verstört und erleichtert. Mit bebenden Fingern streicht Priska ihnen über die Köpfe.

»Danke«, sagt sie leise. Für mehr Worte reicht der Platz in ihrem Hirn gerade nicht.

»Kommt mit!« Der alte Wirt führt sie den engen Korridor entlang. Für Klaustrophobiker wäre dies kein passender Ort. Das steinerne Gewölbe wirkt erdrückend und die niedrige Deckenhöhe macht es nicht besser. Der Gang mündet in eine Treppe, die in einen Weinkeller hinabführt. Beim Durchqueren des Raumes passieren sie unzählige Fässer und vollgestopfte Regale. Auch Priskas geliebter Lagrein lagert hier. Das violette Etikett ist unverkennbar. Am anderen Ende gelangen sie über weitere Stiegen wieder ins Erdgeschoss. Es folgen noch ein paar weitere schmale Gänge und quietschende Türen. Dann stehen sie auf einmal in der Gaststube. An der Theke poliert ein junger Kellner Weingläser mit einem Geschirrtuch. Beinahe ehrfürchtig streicht Priska über die mahagonifarbenen Tischplatten und Stuhllehnen. Doch die Erinnerungen fluten ihr Bewusstsein mit solcher Macht, dass sie ihre Hand rasch zurückzieht. Der Durchgang zur Terrasse ist offen. Priska nimmt die noch immer stummen Kinder erneut an die Hand und steuert auf den hellen, verheißungsvollen Fleck zu. Er markiert das Portal zu ihrem ureigenen Paradies. Der Wirt, dessen Namen sie sich auch nach all den Jahren noch nicht kennt, bleibt in der Stube zurück. Priska weiß seine Zurückhaltung zu schätzen. Bevor sie sich mit anderen Menschen auseinandersetzt, muss sie erst ihre Balance wiederfinden.

Goldene Nachmittagssonne empfängt sie. Der leichte Wind bauscht die Enden der rot-weiss-karierten Tischdecken und hinter der schmiedeeisernen Balustrade funkelt der Eisack.

»Wow, ist das schön!« Elena hat ihre Stimme wieder gefunden. Zusammen mit Jeremias läuft sie quer über die Terrasse und im Slalom um die Tische herum. Das Lachen der Kinder wirkt befreiend. Priska spürt, wie langsam die Anspannung von ihr abfällt. Sie sind die einzigen Gäste. Abgesehen von den Spatzen, die sich direkt vor ihnen um ein paar Brotkrümel streiten. Es kommt Priska so vor, als sei ihr letzter Besuch erst Tage her und nicht zwanzig Jahre. Alles ist wie immer. Nur Ranieri fehlt. Obwohl? Woher will sie das wissen? Vielleicht steht er gerade direkt neben ihr. Kaum hat sie diesen Gedanken vollendet, fährt ein Windstoß durch ihre Locken und bläst ihr neckisch ins Gesicht. Zögernd blickt sie zu Elena hinüber. Kann sie Ranieri sehen? Doch ihre Tochter ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich nicht von Jeremias fangen zu lassen. Priska beschließt, nicht weiter nachzugrübeln, sondern sich ganz der Schönheit des Augenblicks hinzugeben. Seufzend lässt sie sich auf einen der filigranen Stühle fallen. Und gerade als ihr Magen verdächtig zu knurren beginnt, steht der Wirt vor ihr. Priska ergreift seine Hand.

»Sie müssen mir jetzt endlich verraten, wie sie heißen!«, stellt sie ihn unverblümt zur Rede. Seine Lachfalten sind mit das Schönste, das Priska bis jetzt an diesem Tag zu Gesicht bekommen hat.

»Ich bin Andreas. Und ich will, dass ihr euch jetzt erstmal stärkt. Was darf ich euch bringen?«

Priska muss nicht lange überlegen:

»Einen Viertelliter Lagrein und einen großen Teller Pasta aglio é oglio mit Rucola und Tomaten, bitte.« Sie dreht sich zu Jeremias und Elena um. »Kinder, was wollt ihr essen und trinken?«

»Salamipizza und Apfelsaft«, antworten sie beinahe synchron.

»Ist notiert!«, erwidert Andreas lachend. Er verschwindet in der Gaststube und kehrt wenige Minuten später mit dem Wein, zwei Gläsern Apfelsaft und einem Brotkorb zurück Priska angelt sich sogleich einen der noch warmen Vinschgauer Wecken heraus. Sie bricht ein paar großzügig bemessene Stücke ab und gibt sie den Spatzen, die sich bereits erwartungsvoll vor ihrem Stuhl versammelt haben. Dann beißt sie selbst herzhaft in das Roggenlaibchen. Die Kinder sind noch immer in ihr Spiel vertieft und Priska hat nicht vor, sie zu unterbrechen. Als sie das Weinglas an ihre Lippen hebt und von der samtigen Flüssigkeit kostet, deren Aroma entfernt an Veilchen und Brombeeren erinnert, schließt sie die Augen.

Binnen Sekunden holen die Erinnerungen sie ein und ziehen sie in die Vergangenheit. Sie sitzt am gleichen Platz und trinkt den gleichen Wein. Am Boden zanken sich noch immer die Spatzen um die verbliebenen Brotbrösel. Der angebrochene Wecken liegt in dem Brotkorb auf dem Tisch mit der karierten Decke. Das kräftige Rot leuchtet in der Sonne, die in diesem Wachtraum etwas tiefer steht. Doch das Lachen der Kinder dringt nur gedämpft an ihr Ohr. 1996 sind sie noch nicht geboren. Neben ihr greift eine sehnige Männerhand nach dem zweiten Glas Wein. Priskas Blick wandert von den goldenen Härchen auf dem Unterarm nach oben. Ihr Herz hüpft, als sie in das tiefe Blau von Ranieris Augen eintaucht. Um seine Lippen spielt ein spitzbübisches Lächeln.

„Zum Wohl, kleine Hexe!“ Er prostet ihr zu und nimmt dann einen tiefen Schluck. „Gleich, welche Prüfungen noch auf uns warten: Es ist wundervoll, dass wir hier zusammen sitzen können.“ Verwirrt nippt Priska an ihrem Glas. Sie kann sich nicht erinnern, dass diese Worte damals wirklich gefallen sind. Sie sucht nach einer Antwort. Doch aus Angst, die fragile Schönheit dieses Hirngespinstes zu zerstören, sagt sie nichts. Ranieris Strahlen überträgt sich auf sie und dringt direkt in ihr Herz. Das Flattern der neuerwachten Schmetterlinge in ihrem Bauch bringt den knurrenden Magen zum Schweigen. In seinem unbeschwerten Glück ist Ranieri unwiderstehlich. Priska hebt ihre Hand an seine Lippen und zeichnet mit den Fingern zart die Konturen nach. Seine Haut ist warm. Es fühlt sich so echt an. Er hält ihre Finger fest und küsst sie sanft auf die Spitzen. Eine kleine Liebkosung, die in ihrer Intensität einem starken elektrischen Impuls gleichkommt und Priska mit einem Schlag in die Realität zurückholt. Wider Erwarten wird das Kinderlachen jedoch nicht lauter. Es verstummt. Jeremias und Elena haben in ihrem Spiel innegehalten. Beide schauen sie mit großen Augen an. Das Gefühl von Ranieris leicht pulsierenden Lippen auf ihren Fingerspitzen ist nicht verschwunden. Oder es ebbt nach. Zaghaft wendet Priska ihren Kopf. Ranieri hält noch immer lächelnd ihre Hand. Und er hat nichts von seiner Präsenz verloren. Lediglich der dezente Schein, der seine Gestalt umgibt, deutet daraufhin, dass ein Geist neben ihr sitzt. Und nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut. So deutlich hat sie ihn nicht einmal im Schlaf gesehen.

„Du hast es geschafft“, flüstert sie atemlos. „Willkommen zurück.“ Für die letzten, reichlich pathetischen Worte könnte sie sich ohrfeigen. Doch Ranieris gelöstes Lachen ist es wert.

„Wieso ich?“ Seine Stimme ist klar. Kein Rauschen und kein Knistern verfälscht sie. »Du hast die Tür für mich geöffnet. Ohne Dich hätte ich keine Chance gehabt.“

Neben ihnen ertönt ein leises Räuspern. Der junge Kellner steht mit der Pasta am Tisch. Er starrt sie entgeistert an. Priska weiß im ersten Moment nicht, ob er Ranieri sehen kann. Oder fragt er sich nur, warum sie ihre Finger so seltsam in die Luft streckt? Abrupt löst sie die Verbindung und lässt ihre Hand fallen. Hinter dem jungen Mann taucht Andreas auf. Während er die beiden Pizzateller vor ihnen abstellt, blickt er Ranieri unverwandt an. Und ein erkennendes Lächeln huscht über seine Lippen. Mit einer unauffälligen Geste zeigt er auf seinen Angestellten und schüttelt dabei leicht den Kopf.

»Danilo, ich komme hier schon zurecht. Kannst du bitte mit dem Koch die Einkaufsliste für nächste Woche durchgehen?« Der Junge nickt und setzt die Pasta auf dem einzigen noch freien Fleckchen ab. Dann lässt er sie allein.

»Ui, die Pizza ist da.« Die Kinder eilen herbei. Inzwischen sind sie zu dritt. Die weiße Haut des Geistermädchens ist durchscheinend, doch ihr Kleid und die Haarschleife stehen dem kräftigen Rot der Tischdecke in nichts nach. Sie wirkt ebenso aufgekratzt wie Jeremias und Elena. Ganz selbstverständlich nimmt sie auf Ranieris Schoss Platz, während die anderen beiden Kinder sich auf die verbliebenen Stühle setzen.

»Hallo Ranieri«, nuschelt Elena mit vollen Backen. »Super, dass Mama dich jetzt endlich sehen kann.«

»Ja, das finde ich auch«, erwidert er lachend. »Wurde ja auch Zeit.« Fast hätte Priska ihn für diese Bemerkung liebevoll in die Seite geknufft, aber das traut sie sich nicht. Sie hat immer noch Angst, dass dieses Wunder plötzlich wie eine Seifenblase zerplatzt.

Andreas zieht einen weiteren Stuhl heran und setzt sich zu ihnen.

»Jetzt sagt mir: Wie kann ich euch helfen?« Erwartungsvoll sieht er von einem zum anderen. Ohne Umschweife holt Priska das Foto von Eleonore aus ihrem Portemonnaie. Andreas blickt zuerst auf das Bild und dann zu dem Mädchen auf Ranieris Schoss. Es besteht kein Zweifel: Er sieht die beiden Gestalten aus dem Jenseits ebenso deutlich wie Priska selbst.

»Kannst du mir sagen, wer dieses Foto gemacht hat?« Andreas zu duzen, fühlt sich richtiger an. »Oder wie ich mehr über ihre Familie herausfinde?«

Weißt du, wo du hier bist?«, wendet sich Andreas an Eleonore, statt auf Priskas Frage zu antworten. »Oder was dir zugestoßen ist?« Das Geistermädchen schüttelt den Kopf.

»Ich weiß nur, dass ich meine Mutter finden muss.«

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