Ein schmaler Grat

»Als Hans mir sagte, was sie im Labor herausgefunden haben, war mir klar, dass ich Dich nicht aufhalten kann.« Luis wirkt erstaunlich gefasst. Priska schiebt den Laptop aus der Sonne und stranguliert sich dabei fast mit dem Kopfhörerkabel. Luis nimmt ihr mit seiner Reaktion den Wind aus den Segeln. Sie hat eher mit wüsten Beschimpfungen denn mit Akzeptanz oder gar Verständnis gerechnet. Verwirrt setzt sie sich. Ursprünglich wollte sie ihm noch nicht einmal mitteilen, in welcher Pension sie abgestiegen sind. Aber er hätte es ohnehin herausgefunden. Und gleich, wie sehr sie sich in den letzten Tagen in die Wolle bekommen haben: Wenn es um seine Tochter geht, wird sie Luis nie ihm Ungewissen lassen. Das hat er nicht verdient.

»Hallo Papa!« Elena, die im Schneidersitz auf dem Bett hockt und glitzernde Elfen in ihr Stickeralbum klebt, wedelt mit ihrer Rechten gen Bildschirm. Luis kann sein Kind zwar nicht hören, aber sehen. Lächelnd winkt er zurück.

»Darf ich auch mit Papa sypen?«, wendet sich das Mädchen an Priska. Die Nonchalance, mit der sich Elena auf unvorhergesehene Situationen einläßt, muss sie von ihrem Vater geerbt haben. Sobald jedoch ein Lieblingshaargummi verschollen ist oder die Butter an der falschen Stelle im Kühlschrank deponiert wird, hat das jeweils Katastrophenpotential.

»Klar. Gib mir noch zehn Minuten, ok?«

Elena gähnt demonstrativ und widmet sich erneut ihren bunten Aufklebern. Zu ihrer Linken sitzt Professor Schrumpel. Die zweifarbigen Glasäuglein starren in die Spiegeltür des wuchtigen Kleiderschranks, der neben dem Bett steht. Am liebsten würde Priska das monströse Möbelstück aus dem Zimmer schaffen. Es löst Beklemmungen in ihr aus. Sie nimmt sich vor, den Spiegel später mit einem Tuch abzudecken. Vor Elena steht das handtellergroße Feenhäuschen aus Holz, das Luis ihr letztes Jahr zum Geburtstag gebastelt hat. Die Tür und die Fensterläden schmücken bunte Ornamente. Priskas bescheidener Beitrag zu diesem kleinen Kunstwerk. Seit ihrer Abfahrt hat Elena das Miniaturhaus nicht aus den Augen gelassen. Immer wieder hebt sie es an und späht hinein. Sie ist davon überzeugt, dass Esmeralda ihr Flehen erhört hat und vorübergehend in dieses behagliche, wenn auch etwas beengte Domizil eingezogen ist. Weder Priska, noch Elena selbst haben sie allerdings bisher zu Gesicht bekommen. Elena, nie um eine Erklärung verlegen, begründet dies damit, dass sich die Fee zu ihrem eigenen Schutz unsichtbar macht. »Wie kannst Du Dir dann sicher sein, dass sie da ist?«, hatte Priska gefragt. » Manchmal rappelt und leuchtet es drinnen.«

Priska dreht sich wieder zu ihrem Notebook und ihrem Mann um. Sie fragt sich, ob die Falte auf Luis Stirn seiner Konzentration oder der Sorge um ihre Zurechnungsfähigkeit entspringt.

»Die meisten Gedanken mache ich mir wegen Deiner Schlaflosigkeit, Priska. Ich habe Angst, dass Du das Auto um den nächstbesten Baum wickelst.«

»Vielen Dank für Dein Vertrauen!« Priska reagiert patziger, als sie wollte. Im Grunde ist sie Luis dankbar dafür, dass er ihren überstürzten Aufbruch so souverän weggesteckt. Ihr Mann – das unbekannte Wesen. »Ich wundere mich sowieso darüber, dass Du mir nicht prompt die Jungs in den weissen Kitteln auf den Hals gehetzt hast.«

»Priska, ICH bin nicht Dein Feind. Ich liebe Dich! Aber Du kannst in der Tat froh sein, dass Du mir gerade nicht wirklich gegenübersitzt.« Luis Gesichtsausdruck wirkt grimmig, doch um die Mundwinkel zuckt es verdächtig. «Ich weiß, dass Du Elena nie in Gefahr bringen würdest. Bei Dir selbst bin ich mir da allerdings nicht so sicher. So gesehen hat es vielleicht sein Gutes, dass sie Dich begleitet. Trotzdem ist dieser Tripp eine völlig bekloppte Aktion.«

»Genauso bekloppt wie ich? Willst Du das sagen?« Kaum haben die Worte ihren Mund verlassen, verpasst sich Priska in Gedanken eine saftige Ohrfeige. Warum muss sie dem Gespräch nur wieder eine so unschöne Wende geben? Doch Diplomatie war noch nie ihre Stärke.

»Hielte ich Dich für verrückt, würde ich hier bestimmt nicht seelenruhig mit Dir skypen.« Obwohl das Bild gerade ein wenig flackert, sieht Priska, dass Luis tief durchatmet. Etwas zögerlich fährt er fort: »Das größte Problem ist die pathologische Seite Deiner Schlaflosigkeit. Zumindest teilweise ist die Insomnie hausgemacht. Und das behindert Dich.«

»Wobei?« Luis drückt sich schon genauso rätselhaft aus wie Ranieri.

»Ja. Vielleicht hat er ja ein Auge auf Dich , bis ich da bin.«

Priska zuckt zusammen. Hat Luis das eben wirklich gesagt? Kann er nun etwa auch Gedanken lesen? Über die Schulter späht sie zu Elena hinüber, die gerade einen Einhornsticker im gemalten Schlosssaal platziert. Ihre rosa Zungenspitze berührt dabei die Oberlippe. Ein Zeichen von höchster Konzentration. Elena kann ihren Vater ohnedies nicht hören. Priska nestelt nervös am Headset und wendet sich wieder ihrem Mann zu. Luis grüne Augen funkeln. Ein wenig süffisant. So scheint es. »Der Schlafmangel macht es Deinem Hirn leicht, Dir etwas vorzugaukeln. Wie willst Du da erkennen, was Halluzination und was echt ist? Zunächst musst Du wieder klar werden in der Birne. Erst dann kannst Du analysieren, was hinter dem ganzen Hokuspokus steckt.«

»Und wie soll ich das anstellen?« Priskas Gedanken hängen noch an der Stelle, wo Luis Ranieri als Babysitter für sie vorschlägt. Damit hat er das Gegenteil von dem erreicht, was er von ihr fordert. Nun ist sie endgültig verwirrt. Ihr Schädel dröhnt und ihre Glieder sind schwer. Sie fühlt sich wie in einem Alptraum, in dem sie versucht, vor einer unbekannten Bedrohung zu flüchten, dabei aber keinen Millimeter vom Fleck kommt. Heimlich kneift sie sich in den rechten Oberschenkel. Nein, sie ist definitiv wach. Es ist der vergangene Tag, der ihr in den Knochen steckt. Und zwei Stunden Schlaf reichen einfach nicht aus, um sich ausreichend zu regenerieren. Ihr Körper fährt mit der letzten Pfütze Sprit. Sobald diese versiegt ist, hält die Zapfsäule nur einen weiteren Tropfen bereit. Nicht etwa eine komplette Tankfüllung. Seufzend massiert sie sich die Schläfen und bemüht sich, Luis Erläuterungen zu folgen.

»Die Verhaltenstherapie wäre ein erster Schritt gewesen. Sie hätte Dir das nötige Rüstzeug mitgegeben. Techniken, um Deine Panikattacken in Schach halten und in den Schlaf finden zu können. Derzeit bist Du ein Spielball Deiner Ängste. Das muss aufhören. Ich denke, Du brauchst eine Krücke, bevor Du losrennen und in die Abgründe Deiner und anderer Leute Seele und Vergangenheit eintauchen kannst. Du solltest zuerst halbwegs stabil sein. Verstehst Du?«

»Der ganze Entspannungsquatsch hat mir bisher rein gar nichts gebracht.« Priska merkt selbst, dass sie sich verhält wie ein Kleinkind, das nicht versteht, warum es Schwimmflügel braucht.

»So etwas Störrisches wie Dich gibt es auch kein zweites Mal! Du machst es Dir wirklich unnötig schwer.« Luis hat die Moralpredigt noch nicht beendet, als sein Blick scheinbar beiläufig von ihr wegwandert. Er fixiert nun einen Punkt in ihrem Rücken. Rasch dreht sich Priska um und erstarrt. Dabei wäre es angebracht, sich allmählich an Eleonores Gegenwart zu gewöhnen. Das Geistermädchen hat seine Drohung wahr gemacht und sich nicht abschütteln lassen. Im Spiegel des Kleiderschranks sieht Priska Eleonore auf der Bettkante sitzen. Lächelnd frisiert sie ihre Puppe. Elena ist noch immer mit ihrem Stickeralbum beschäftigt. Entweder hat sie ihre Gespensterfreundin nicht bemerkt oder sie will sich gerade nicht mit ihr befassen. Außerdem muss Elena nicht den Spiegel bemühen, um das Gespensterkind sehen zu können. Zudem bleibt ihr der Anblick der frei im Raum schwebenden Haarbürste erspart. Eleonores Spiegelbild hebt den Kopf und Priska verschränkt fröstelnd ihre Arme. Doch die Augen des Geistermädchens richten sich nicht auf sie. Die Szene hat etwas Surreales, doch es besteht kein Zweifel: Eleonore und Luis sehen sich an. Dafür, dass ihr Mann die Existenz dieses Wesens noch vor einigen Tagen rigoros geleugnet hat, wirkt er ziemlich gelassen. So tiefschürfend diese Erkenntnis, so flüchtig der Augenblick. Schon ruhen Luis Augen wieder auf Priska und Eleonore ist verschwunden. Lediglich die Haarbürste bleibt auf dem Bett zurück.

»Luis, was geht hier vor? Du hast sie auch gesehen! Wag ja nicht, es abzustreiten!« Priskas Stimme überschlägt sich fast. Fürchterlich, ihre Überspanntheit. Sie wird sich selbst immer unsympathischer.

»Mama, ist alles in Ordnung? Redest Du von Eleonore? Sie war eben noch da.« Elena klingt beunruhigt. Wahrscheinlich hat Priskas schriller Tonfall sie alarmiert.

»Ja, alles gut, mein Schatz.« Priska holt tief Luft und zieht den Laptop näher an sich heran.Luis Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten. Seine Antwort scheint er sich jedenfalls genau überlegen zu müssen. Nachdenklich knetet er seinen Nacken.

»Kann ich jetzt mit Papa reden?«, schaltet sich Elena erneut ein.

»Gleich, Elena.« Priska beugt sich über die Tastatur. Ihre Nase klebt nun fast am Bildschirm. »Luis, ich hab Dich etwas gefragt.«

»Ich weiß nicht genau, was ich gesehen habe«, antwortet er ausweichend.« Die Lichtverhältnisse sind nicht gerade optimal. Vergiss nicht, dass ich Euer Zimmer nur auf dem Computerdisplay sehe. Und der Hintergrund ist lange nicht so deutlich zu erkennen wie Du. Reflexionen im Spiegel erst recht nicht. Aber ich werde gleich im Anschluss ein Tool installieren, mit dem ich künftige Videogespräche aufnehmen kann. So bringen wir möglicherweise Licht ins Dunkel. Vielleicht versuchst Du auch, das Ganze mit Deinem Smartphone festhalten, wenn es wieder passiert.«

»Also, das kann ich Dir nicht versprechen, Luis.« Priska stellt sich vor, wie sie lässig das Handy zückt, sobald Eleonore wieder auftaucht. Das Szenario ist derart grotesk, das sie sich zusammenreißen muss, um nicht hysterisch los zu kichern. »Aber immerhin weißt Du jetzt, dass nicht alles nur eine Ausgeburt meiner Schlaflosigkeit ist.« Kaum hat sie diese Worte ausgesprochen, da wird ihr bewusst, was sie bedeuten. Eleonores Geist ist echt. Keine Coproduktion von Elenas und ihrer Phantasie. Priska spürt, wie die Gänsehaut ihre Arme überzieht und sich in ihrem Magen ein flaues Gefühl einnistet. Außerdem ist sie überzeugt davon, dass Luis ihr nur die halbe Wahrheit erzählt. Zu deutlich war der Blickkontakt zwischen ihm und dem Geisterkind. Aber es macht wohl wenig Sinn, da heute nochmal nachzubohren.

»Glaubst Du, dass Du heute Nacht schlafen kannst?«, fragt ihr Mann, ohne auf ihre letzte Äußerung einzugehen.

»Ich habe meine Schlaftabletten dabei. Ich werde später eine halbe davon einwerfen. Damit sind mir ein paar Stunden Schlaf sicher, aber ich bin nicht so weggetreten, dass ich nichts mehr um mich herum mitbekomme.« Elenas inbrünstigen Seufzer im Hintergrund ignoriert Priska geflissentlich.

»Und morgen nimmst Du am besten die Autobahn und nicht den alten Brennerpass. Zu viele Kurven.«

»Luis, die Serpentinen sind nicht das Problem. Wenn ich stur geradeaus fahren muss, ist das viel gefährlicher. Monotonie ist der Killer. Im wahrsten Sinne des Wortes. Da ist der Sekundenschlaf fast vorprogrammiert.«

Sie hat keine andere Wahl: Sie muss unbedingt die alte Brennerstraße nehmen, an der Biegung in die Schlucht hinabblicken und unter den mächtigen Pfeilern der Europabrücke hindurchfahren. Es ist wichtig, dass sie die Präsenz der Berge spürt und die der Vergangenheit. Nur dieser Weg, auf dem vor Jahrhunderten bereits Goethe nach Italien gelangte und den sie selbst in und auswendig kennt, wird sie ans Ziel führen. Das sagt Priska ihr Instinkt und sie weiß, dass er sie nicht trügt.

Jetzt ist es an Luis, resigniert aufzustöhnen. Abwehrend hebt er beide Hände. »Ok, ich kann Dich sowieso nicht daran hindern. Hauptsache, Du schläfst und machst einen großen Bogen um jegliche Harakiri-Manöver. Ich komme nach, so schnell ich kann. Aber eines muss ich Dir lassen: Du hast echt ein mieses Timing.« Er klingt zerknirscht. Priska bindet ihm lieber nicht auf die Nase, dass sein Irlandaufenthalt ein Punkt auf der Pro-Liste für diese spontane Südtirolreise war. Wer hätte ahnen können, dass er ausgerechnet jenes Projekt, auf das er monatelang hingefiebert hat, im Stich lassen würde, um ihnen zu folgen. Nur selten hat Luis die Gelegenheit, an Ausgrabungen teilzunehmen. Dabei ist die Freilegung geschichtsträchtiger Funde damals die Hauptmotivation für sein Archäologiestudium gewesen. Nicht im Traum hat er sich vorstellen können, später einer von ihnen zu werden. Den leeren Körpern, wie er sich und seine Kollegen scherzhaft bezeichnet. Auch wenn ihm das Unterrichten inzwischen Freude bereitet, schlägt sein Herz nach wie vor für die echte Schatzsuche. Bei dem Gedanken muss Priska unwillkürlich lächeln. Gerührt erkennt sie, dass Luis ebenfalls schmunzelt.

Während in Priska Bauch die Liebe ein wärmendes Feuer entfacht und die negativen Emotionen vertreibt, zieht Elena ihrer Mutter das Headset vom Kopf. Routiniert streift sie es sich selbst über die braunen Locken. Ohne lange nachzudenken, wirft Priska ihrem Mann eine Kusshand zu. Er fängt den Kuss auf und erwidert ihren liebevollen Abschiedsgruß. »Oh Gott, seid Ihr kindisch«, stöhnt Elena, um sich dann sogleich in das Gespräch mit ihrem Vater zu vertiefen: »Papa, weißt Du schon, dass Esmeralda in das Feenhaus eingezogen ist?«

Der Menhir ragt wie ein riesiger, steinerner Thron aus dem Waldboden. Priska schreitet auf einem Teppich aus buntem Herbstlaub auf ihn zu. Nur wenige Sonnenstrahlen stehlen sich durch die Baumkronen und tauchen diesen einsamen Ort in ein magisches Licht. Voller Ehrfurcht legt Priska ihre Rechte auf den uralten Stein. Er ist warm und schmeichelt ihrer Hand. Es ist bereits Jahrzehnte her, dass sie zuletzt diese Brücke zwischen Dies- und Jenseits berührte. Sie schließt die Augen und beinahe kann sie sie sehen und hören. Wie sie um den Hühnenstein tanzen und keltische Weisen singen. Das dumpfe Grollen der Trommeln versetzt ihren gesamten Körper in Vibration. Dröhnt und pulsiert in ihrem Bauch und ihren Eingeweiden. Der Eindruck von warmer, menschlicher Haut – von einer Hand, die dicht neben ihrer Platz auf dem durchfurchten Fels findet, ist so real, dass ihr schauert. Kühler Stoff streift ihren nackten Unterarm.

»Ein Teil von Dir ist älter als ich. Ja, sogar älter als dieser Stein.« Es ist eine weibliche Stimme. Dicht an Priskas Ohr. Sie zuckt zusammen und schlägt die Augen auf. Neben ihr steht eine junge Frau. Sie trägt ein tannengrünes, bodenlanges Gewand. Das Haar ergießt sich in einem Meer aus rotblonden Locken über die Schultern.

»Wer bist Du?« Priska kann sich nicht vorstellen, dass ihr die Antwort weiterhilft, aber sie muss die Frage trotzdem stellen.

»Ich bin Juna.« Die wasserblauen Augen des Mädchens wirken ebenso offen wie unergründlich. Sie streicht andächtig über das Relikt ihrer Ahnen. »Alles ist vergänglich. Und auch wieder nicht. Du hast den rechten Weg eingeschlagen. Doch er ist lang und beschwerlich. Wende Dich an meine Nachfahren, wenn Du Hilfe brauchst. Sie leben nicht weit von hier.«

Zuerst sind es die Haare, die an Farbe verlieren. Wie grauer Nebel umspielen sie den schlanken, zunehmend transparenter werdenden Körper, durch den bald der Steinblock hindurchschimmert. Junas freundliches Lächeln ist das Letzte, was Priska sich vergegenwärtigt. Dann ist das Mädchen verschwunden.

Priskas Hand liegt noch immer auf dem Menhir, der schon so viele Menschen und Zeiten hat an sich vorüberziehen sehen. Er hat etwas Tröstliches und Beruhigendes, dieser riesige Steinblock. Unnachgiebig und dennoch einladend. Priskas Hand ertastet eine glatte Kuhle, in die sie nun wie selbstverständlich ihre Wange schmiegt. Im selben Augenblick spürt sie, wie der Boden unter ihr ins Wanken gerät und sich verändert. Priska blickt auf ihre Füße hinab. Ein Schwindelgefühl erfasst sie. Der Grat fällt zu beiden Seiten steil ab. Nur Zentimeter trennen sie vom Abgrund. Wolken hängen zwischen den Bergspitzen und Baumwipfeln. Sie verschleiern, was unter ihr liegt. Ein scharfer, kalter Wind reißt an Priskas Kleidern. Sie muss ich konzentrieren, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Langsam hebt sie ihren Kopf. Nur wenige Meter entfernt steht eine Gestalt. Obwohl das Gesicht ihr zugewandt ist, braucht Priska einen Moment, bis sie erkennt, wenn sie da vor sich hat. Es ist Ranieri. Zwar blickt er in ihre Richtung, aber er scheint durch sie hindurchzusehen. Seine Augen schweifen rastlos umher. Sie kann seine Anspannung fühlen. Er ist wieder zwanzig. Seine Konturen sind klar. Kein lumineszierender Schein. Ein Mensch aus Fleisch und Blut. Jäh durchzuckt sie die Enttäuschung. Das ist nicht Ranieri, der Geist, sondern lediglich eine Erinnerung. Losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext und neu eingepflanzt an einem anderen Ort. Offensichtlich träumt sie. Mit der Fußspitze scharrt sie im weißen Geröll. Sie überlegt, ob sie sich fallen lassen soll. Was kann schon passieren? Wahrscheinlich wacht sie einfach auf. Es ist ein Traum und nicht der Erste, in dem sie in die Tiefe stürzt. Sie ist sich nicht sicher, woher dieser plötzliche Impuls rührt. Wahrscheinlich ist es die Trostlosigkeit, der sie entfliehen will. Sie kann nicht mit Ranieri kommunizieren. Er nimmt sie nicht wahr. Und auch wenn er weitaus lebendiger erscheint als der Ranieri in Geistergestalt – er ist es nicht. Sie hat das Gefühl, vor einer Kinoleinwand zu sitzen. Der Film ist in 3D, aber eine Interaktion unmöglich.

»Du kannst mir keine Angst mehr machen. Ich habe abgeschlossen mit diesem Leben. Tot ist tot. Du bist nur eine irrwitzige Schöpfung meines kranken, verkrebsten Hirns. Es gibt keine Geister. Kein Jenseits. Kein Leben nach dem Tod. Nur Dunkelheit.« Ranieri klingt zugleich trotzig und verzweifelt. Seine Augen haben endlich einen Fixpunkt gefunden. Er starrt auf etwas in Priskas Rücken. Reflexartig will sie sich umdrehen. Doch dann wäre dieser Traum in der Tat zu Ende. Der Anblick würde ihren freien Fall erzwingen. Sie weiß sehr genau, wer sich da unaufhaltsam von hinten nähert. Schon vorher war es windig und kalt. Doch die klirrende Kälte, welche die schwarze Frau mit sich bringt, nimmt Priska die Luft zum Atmen. Sie spürt, wie die eisigen Finger sich in ihren Rücken bohren und in sie hineingreifen. Sie finden ihr Herz, quetschen es unbarmherzig und bringen es an den Rand des Erfrierungstodes. Verzweifelt versucht Priska, ihre Lungen mit Sauerstoff zu versorgen. Es ist nur ein Traum. Ein Traum!

Doch der Druck auf ihrem Brustkorb ist unerträglich. Von einem Moment auf den nächsten schlägt eine Welle aus Kälte, Schmerz, Liebe und blinder Wut über ihr zusammen. Priska taumelt. Sie fühlt sich benommen. Und noch immer fühlen sich ihre Lungen an, als seien sie in einen Schraubstock geraten. Sekunden später legt sich Dunkelheit wie ein blickdichter Schleier über sie. «Nun wache ich also doch auf«, denkt Priska. Einerseits ist sie erleichtert, andererseits enttäuscht. Obgleich Ranieri in diesem Traum lediglich eine Marionette ihres Unterbewusstseins ist, will sie ihn nicht im Stich lassen. Sie wartet auf den Sog, den sie immer vor dem Aufwachen verspürt und der sie zurück in die reale Welt katapultieren wird. Doch nichts geschieht. Kurz darauf hebt sich der Schleier. Priska steht noch immer auf dem schmalen Gebirgspfad. Direkt vor ihren wogt eine dunkle Nebelschwade den Weg entlang. Ranieri entgegen. Priska braucht einen Moment, bis sie erkennt, dass es sich dabei um das Gewand und das dunkle Haar der schwarzen Frau handelt. Auf dem Foto im alten Haus und in Priskas letztem Traum von der unheilvollen Frauengestalt trug sie eine züchtige Hochsteckfrisur. Nun jedoch umhüllt die lange Haarpracht die Spukerscheinung wie eine Gewitterwolke. Bedrohlich und energiegeladen. Priska kann das Gesicht des Geisterwesens nicht sehen. Zeugt es in diesem Moment von Rachegelüsten oder von Leidenschaft? Der graue Dunst hat inzwischen Ranieri erreicht. Langsam schlängelt er sich an seinen Beinen empor. Ranieri versucht zurück zu weichen, doch der Nebel ist jetzt auch hinter ihm. Baut sich in seinem Rücken zu einer undurchdringlichen, meterhohen Wand auf.

»Nein, Du wirst mich nicht bekommen!« Seine Stimme klingt fest und kraftvoll. Nur Priska kann das Zittern und die Verzweiflung heraushören. »So will ich nicht sterben. Du darfst nicht das Letzte sein, was ich sehe.« Die ersten Ausläufer des kalten Rauches haben inzwischen seine Schultern erreicht. Er zerrt an der dünnen Kette um seinen Hals. Priska kann sich noch daran erinnern, wie sie ihn damals scherzhaft fragte, ob er jetzt auch unter die prolligen Goldkettchenträger gegangen sei. Das wäre ja schon fast ein Trennungsgrund. Ranieri hatte nur gelächelt und sich an die Brust gefasst.

»Ich liebe Dich, Priska.« Zart küsst er den Gegenstand, den er in Händen hält. Es ist ein kleines Medaillon. Priska traut weder ihren Ohren noch ihren Augen. Ein Traum. Es ist nur ein Traum! Trotzdem schlägt ihr das Herz bis zum Hals. »Ranieri, ich bin hier!«, ruft sie, jeglicher Vernunft zum Trotz. Doch er hebt nicht einmal den Kopf. Mit dem geöffneten Anhänger an seinen Lippen macht er einen Schritt zur Seite und lässt sich fallen. Er führt seinen Suizid beinahe beiläufig aus. Kein einziger Schrei dringt aus seinem Mund. Dafür brüllt Priska sich die Seele aus dem Leib. In ihrem Kopf ist das Kreischen ohrenbetäubend. Doch nach außen scheint sie stumm. Trotzdem wendet die schwarze Frau sich zu ihr um. Auf ihrem Antlitz spiegeln sich widerstreitende Emotionen. Hass und Boshaftigkeit würden das Gesicht in eine dämonische Fratze verwandeln. Wären da nicht die Trauer und die Ahnung von Liebe und Menschlichkeit.

»Du hast ihn mir weggenommen.« Priska hört nur das Echo der Geisterstimme. Doch der anklagende Tonfall ist unverkennbar und der Nachhall erreicht Priskas Innerstes. »Nun sind sie alle fort. Die Lieben meines Lebens.« Sie kommt näher. Ihre Augen scheinen fast aus den Höhlen zu springen. Keine Sekunde lassen sie Priska aus dem Blick. »Am Schmerz bin ich zerschellt. Ich muss mein Leid teilen. Mit Dir. Deine Schuld kannst Du nicht begleichen, aber mildern. Ich nehme Dich mit in meine ewige Hölle.«

Mit jedem Schritt, den die schwarze Frau auf sie zugeht, nimmt die Enge in Priskas Brust zu. Sie wundert sich, warum sie noch nicht ohnmächtig geworden ist. Doch Träume halten sich nicht an anatomische und physikalische Gesetzmäßigkeiten. Ihr Hirn signalisiert ihren Beinen, sich in Bewegung zu setzen. Nur weg von hier und von ihr. Priska unterdrückt den starken Fluchtimpuls und erinnert sich an Ranieris Worte. Hatte er nicht gesagt, dass ihr im Traum nichts geschehen kann? Ja, dass sie sogar erst im Traum zu ihrer wahren Macht findet? Wenn nicht jetzt, wann dann. Forsch stellt sie sich ihrer gespenstischen Widersacherin entgegen. »Ich kann Dir nicht wegnehmen, was Dir nie gehört hat. Er war noch nicht geboren, da lagst Du schon lange unter der Erde.«

»Du irrst Dich. Tatsächlich weißt Du gar nichts.« Auf einer Wolke aus Verachtung und Hohn weht die sinnentleerte Antwort der schwarzen Frau zu ihr hinüber. Priska spürt, wie die nebeligen Auswüchse sich um ihre Beine schlingen. Die unsägliche Kälte frisst sich unbarmherzig durch ihr Fleisch. In einer der entlegensten Ecken von Priskas Gehirn regt sich etwas. Es ist die Abteilung der tief verbuddelten, archaischen Überbleibsel. Doch sie hat keine Möglichkeit, an dieses alte Wissen heranzukommen. Und es ist nicht die schwarze Frau, die sie blockiert, sondern ein Fremdkörper, der in ihrem Hirn nichts verloren hat. Fieberhaft versucht Priska, die Barriere zu durchbrechen. Watte, nichts als Watte. Und dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Die halbe Schlaftablette hat ihre Schlafarchitektur verändert. Sie ist das Knock-Out-Kriterium. Priska kann ihren Körper unterhalb ihrer Hüfte nicht mehr spüren. Nicht einmal die eisige Kälte. Sie blickt an sich hinunter. Mit Entsetzen stellt sie fest, dass ihre Beine eins geworden sind mit der schwarzen Masse, die mehr und mehr von ihr Besitz ergreift. Das Gesicht der schwarzen Frau schwebt nun direkt vor ihrem. Das Gespenst lächelt. Siegessicher. Gerade, als Priska sich fragt, ob sie nicht doch nach Freddy-Krüger-Manier im Traum sterben kann, erfasst sie ein mächtiger Strudel. Sekunden später wacht sie auf. Japsend schnappt sie nach Luft. Aber da ist keine. Der Druck auf ihrer Brust hat nicht nachgelassen. Im Gegenteil. Hastig öffnet sie die Augen und sieht sich dem nächsten Alptraum gegenüber. Auf ihrem Oberkörper sitzt eine Kreatur mit abscheulich langen und unglaublich dürren Gliedmaßen. Der dunkle Leib selbst ist jedoch aufgedunsen und dicht behaart. Das Ungeheuer ähnelt einer fetten, schwarzen Spinne. Sechs Augen, glänzend wie feingeschliffener Onyx, starren Priska unverwandt an. Priska durchfährt der Schock wie Stromschlag. Kurz wirft sie einen Blick zur Seite. Elena schläft tief und fest. Eingerollt wie ein Baby. Den Kopf mit den seidenweichen Locken in Priskas Armbeuge geschmiegt. Nur Zentimeter von dem widerlichen Monster entfernt, das mit der Last seines pulsierenden Torsos Priskas Brust zerquetscht. Ein behaarter Spinnenfinger taucht am Rande ihres Blickfeld auf. Er berührt ihr Gesicht. Schabt über ihre Wange und hinterlässt dabei einen klebrigen Film. Ihre Abscheu und Furcht ist so gewaltig, dass Priska nicht mehr an sich halten kann. Mit einem gellenden Schrei fährt sie hoch, rammt dem Ungetüm mit letzter Kraft eine Faust in die behaarte Körpermitte und schleudert es von sich. Fast augenblicklich füllen sich ihre Lungen wieder mit frischem Sauerstoff.

»Mama, was ist los?« Schlaftrunken reibt sich Elena die Augen. Priska antwortet nicht sofort. Ihre Augen folgen dem monströsen Schatten. Bis er von der Dunkelheit verschluckt wird.

»Es passiert wieder! Mama, schau hin!« Elena sitzt nun ebenfalls aufrecht im Bett und Priska befürchtet schon, dass ihr Kind das Höllenwesen doch noch erspäht hat. Aber Elena sieht in eine völlig andere Richtung. Priska folgt ihrem Blick. Beide betrachten sie das Feenhäuschen, welches Elena auf dem Nachtkästchen platziert hat. Aus dem Inneren dringt ein goldener Schein.

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