Grenzgänger

»Raus mit Euch!« Hecktisch wedelnd versucht Priska, zwei Fliegen zu verscheuchen, die vor ihrem Gesicht eine Art Balztanz aufführen. Das Fenster auf der Fahrerseite hat sie bereits geöffnet, aber die nervigen Insekten denken nicht daran, sich davon zu machen. Sie wirft einen kurzen Blick in den Innenspiegel. Elena schläft tief und fest in ihrem Kindersitz. Die rosigen Lippen sind leicht geöffnet. Priska spürt, wie sich ihr Herz wehmütig zusammenkrampft. Im Schlaf sieht ihre Tochter noch immer aus wie ein Baby. »Es ist nicht rechtens, dass dieses kleine Kind mit Geistern und Kreaturen aus düsteren Schattenwelten konfrontiert wird. Für sie sollte das Leben bunt und fröhlich sein. Frei von Sorgen und Ängsten.« Priska seufzt. Eine weitere Fliege hat sich auf Elenas rechtem Arm niedergelassen, der das kleine Feenhäuschen fest umklammert hält. »Habe ich vorhin versehentlich neben einem Misthaufen geparkt, oder wo kommen diese Viecher jetzt plötzlich alle her?« Priska fällt es schwer, sich auf die Straße zu konzentrieren. An der Windschutzscheibe tanzt inzwischen ein Fliegenquartett nach einer abstrusen Choreographie. Und draußen schüttet es wie aus Kübeln. Priska ist froh, dass die Strecke an diesem Tag kaum befahren ist. Spritzwasser und reflektierende Scheinwerfer hätten ihre übermüdeten Augen noch mehr strapaziert. Die graue Wolkendecke lässt kaum Licht hindurch. Doch Priska weiß, dass sich das Wetter schlagartig ändern kann, sobald sie den Brennerpass hinter sich gelassen haben. Sie hofft sehr darauf, bald von leuchtenden Farben und hellen, wärmenden Sonnenstrahlen empfangen zu werden. Möge die Helligkeit die Schatten der letzten Nacht vertreiben.

Priska ist überrascht darüber, dass sie nach dem Erlebnis mit der monströsen Kreatur nicht augenblicklich in Schockstarre verfallen ist. Vielleicht hat ihr Verstand noch nicht realisiert, was ihr widerfahren ist. Und auf eine verquere Art und Weise ist sie auch erleichtert, dass ihre Atemnot und ihre Panikattacken nun ein Gesicht haben. Wenn auch ein grässliches. Fast verspürt sie sogar ein wenig Genugtuung: Ihre Vermutung, dass ein Nachtmahr sie quält, ist alles andere als absurd. Obwohl Luis sie das glauben machen wollte. Zwar hat sie sich einen Aufhocker irgendwie anders vorgestellt. Menschlicher. All die Quellen, die sie in unendlichen schlaflosen Nächten studiert hat, vermitteln das Bild einer eher humanoiden Gestalt. Dass Priskas Aufhocker nicht diesem Klischee entspricht, ändert jedoch nichts an dem, was er ist. Ein Dämon, dem nach ihrer Lebensenergie dürstet. Ihr fröstelt und nervös blickt sie abermals in den Innenspiegel. Beinahe erwartet sie, dass sie den sechs seelenlosen, tiefschwarzen Augen begegnet, die sich nur wenige zuvor Stunden eispickelgleich in ihr Innerstes gebohrt haben. Doch der Platz neben Elena ist leer. Kein geiferndes Maul. Keine haarigen Gliedmaßen, die nach ihrer Tochter oder Priska selbst tasten.

Eine Fliege summt direkt an ihrem linken Ohr. Priska schüttelt reflexartig den Kopf. Dabei muss sie das Lenkrad ruckartig bewegt haben. Der Wagen gerät auf der nassen Fahrbahn ins Schlittern. »Oh Gott, das darf nicht wahr sein«, schießt es ihr durch den Kopf. »Ich werde jetzt doch nicht tatsächlich aus der Kurve fliegen.« Das Herz klopft ihr bis zum Hals und instinktiv will sie das Steuer herumreißen. Gerade noch rechtzeitig besinnt sie sich der Regeln bei Aquaplaning. Sie tritt die Kupplung durch und versucht mit zitternden Händen möglichst sanft gegenzulenken. Das Auto befindet sich auf der Gegenfahrbahn und rutscht auf die Leitplanke zu, welche die Straße von der Schlucht trennt. Glücklicherweise kommt ihnen niemand entgegen. Obgleich sie sich mit achtzig Stundenkilometer dem Abgrund nähern, fühlt sich Priska wie in einem Film, der in Zeitlupe abgespielt wird. Sie registriert, dass ihre Knöchel weiß werden, weil sie ihre Finger so ins Lenkrad krallt. Und sie sieht, dass die Fliegen sich an der Windschutzscheibe sammeln. Wie sensationslüsterne Zaungäste. Sie ist sogar so geistesgegenwärtig, um dieses Verhalten als merkwürdig zu bewerten.
»Mama, was ist los?«, ruft Elena schlaftrunken. Während der Wagen haarscharf an der Begrenzung entlang schrammt, macht sich Priska Vorwürfe, dass sie ihr Kind unnötig dieser Gefahr aussetzt und sie womöglich zu Tode erschreckt.
»Alles gut, mein Schatz«, erwidert sie heiser. Krampfhaft hält sie weiterhin das Lenkrad umklammert. Sie fühlt sich, als würde sie versuchen, einen wütenden Stier zu bändigen. Tatsächlich gewinnen die Reifen allmählich wieder an Bodenhaftung und Priska gelingt es, den Schlingerkurs zu beenden. Erleichterung durchströmt sie, als sie den Wagen endlich wieder unter Kontrolle hat.
»Mama, bitte fahr nie wieder so wild! Ich hatte richtig Angst«, tönt Elenas helles Stimmchen von der Rückbank.
»Nein, das verspreche ich Dir, mein Liebes.« Priska atmet tief durch. »Jetzt fürchtest Du Dich aber nicht mehr, oder?«, fragt sie vorsichtig.
»Mein Herz pocht ganz schnell. Aber sonst ist alles ok.« Elena klingt gewollt souverän.
»Das alles tut mir furchtbar leid, mein Schatz.« Priska schluckt. »Ich liebe Dich!«
»Ich Dich auch, Mama«. Elena spricht diese gewichtigen Worte betont langsam aus. Sie weiß, wie wertvoll sie sind. Priska hört, wie ihre Tochter ihr mit lautem Schmatzen einen Luftkuss zuwirft. Eine Geste, die Elena gestern selbst noch als kindisch verurteilt hat. Priska erwidert den Kuss, doch sie traut sich nicht, nochmal in den Innenspiegel zu sehen. Zu groß ist ihre Angst, dass sie erneut ins Rutschen gerät. Sie darf nicht darüber nachdenken, dass sie den Menschen, den sie am meisten liebt auf dieser Welt, soeben in Lebensgefahr gebracht hat. Das Adrenalin, das ihr gerade durch die Venen schießt, reicht jedenfalls für zehn Fahrten nach Südtirol und wieder zurück.
»Mama, nicht weinen!« Elena entgeht auch gar nichts. Priska wischt sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht. »Das sind nur Freudentränen, meine Süße«, erwidert sie leise.
»Warum sind hier so viele Fliegen im Auto?« Priska spürt einen Luftzug im Nacken. Wahrscheinlich ist ihr Kind auch gerade am Herumwedeln. »Die kitzeln mich.«
»Wir legen gleich eine kleine Pause ein. Und dann schmeißen wir die alle raus, in Ordnung?«
»Ja, das machen wir!« Elena klingt schon wieder fast normal.

Sie befinden sich nahe der Stelle, an der Priska bei jedem Besuch einem ureignenen Ritual folgt. Schon als kleines Kind hat sie mit ihren Eltern immer dort gehalten. Gemeinsam haben sie dann beinahe andächtig in die Schlucht hinuntergeblickt. Warum, weiß sie nicht. Doch wenn sie dem Drang widersteht und einfach an der unscheinbaren Parkbucht vorbeifährt, wird dieses Versäumnis wie ein Damoklesschwert über ihr hängen. Priskas Unterbewusstsein kennt den Grund. Nur noch eine Biegung und sie sind da. Alles ist wie immer. Abgesehen von einem kleinen Marterl, das dort zum Andenken an eine verunglückte Person errichtet worden ist. Dieses Täfelchen weckt keinerlei Erinnerung bei ihr. Es gehört nicht dorthin. Trotz des beklemmenden Gefühls, das sich in Priskas Magengrube breitmacht, lenkt sie den Wagen auf den kleinen Parkplatz. Unter den Rädern knirscht der Kies, als sie mit großzügigem Sicherheitsabstand zum Abhang anhalten. Priska vergewissert sich dreimal, dass die Handbremse aktiviert ist, bevor sie aus dem Auto steigt und nach hinten zu Elena geht, um sie abzuschnallen. Immerhin hat der Regen zwischenzeitlich nachgelassen. Doch die Sonne lässt sich immer noch nicht blicken. Priska zieht ihre Tochter direkt vom Kindersitz in ihre Arme. Das Kind schlingt seine Arme um ihren Hals und die langen Beine um ihre Hüften. Elenas Herz schlägt noch schneller als das ihrer Mutter. Priska vergräbt ihr Gesicht in den duftenden Locken ihrer Tochter. Mit ihr auf dem Arm öffnet Priska auch die anderen Türen. Sie hofft, dass diese Maßnahme ausreicht, um die Fliegen nach draußen zu locken.

»Was ist das?« Elena löst sich von ihrer Mutter und gleitet auf den Boden. Stattdessen ergreift sie Priskas Hand und zieht sie zu dem überdachten Marterl. Es hängt kein Kreuz über der Inschrift. Nur ein Grablicht steht auf einem Brett unter der Gedenktafel. Doch die Kerze brennt nicht. Priska ist unbehaglich zumute, als sie sich dem gespenstischen Mahnmal nähern. Dabei hat sie früher, auf den zahlreichen Wanderungen, die sie mit ihren Eltern und später mit Ranieri unternommen hat, jedes einzelne Marterl am Wegesrand studiert. Und ihm den nötigen Respekt gezollt. Aber dieses hier ist anders.
»Mama, jetzt komm. Ich möchte wissen, was da drauf steht.« Ungeduldig zerrt Elena an ihrer Hand.
»Elena, das ist eine Art Andenken. Für einen Menschen, der hier gestorben ist.« Priska denkt an die skurrilen und teils makabren Texte, mit denen der Toten auf diesen Tafeln gedacht wird. Der Humor soll dem Tod den Schrecken nehmen, doch auf Priska hat die Fröhlichkeit immer erst recht verstörend gewirkt. Es gibt schon genug, was Elena derzeit zusetzt. Die Geschichte auf dem Marterl ist bestimmt kein geeignetes Seelenfutter für sie.
Nun stehen sie direkt vor der Gedenktafel. Priska braucht einen Moment, ehe sie die geschwungenen Lettern entziffern kann. Als ihr Verstand den Worten Sinn gibt, erstarrt sie. Die Kälte ist wieder da und trifft Priska mit einer Wucht, die sie straucheln lässt. Mit klammen und zitternden Fingern kneift sie sich in den Unterarm. Sie gräbt ihre Fingernägel so tief in die Haut, dass sie zu bluten anfängt. Nein. Leider träumt sie nicht.

»Hier starb Priska Lavendar.
Verfolgt von einem Mahr.
Der Weg in die Ewigkeit ist nicht weit –
Um zwölf war sie fort und um eins schon dort.«

In welch grausames Spiel ist sie da nur hineingeraten? Wie in Trance blickt sie auf ihre Armbanduhr. Das Ziffernblatt verschwimmt beinahe vor ihren Augen. Es ist kurz vor zwölf Uhr Mittags.
»Mama? Alles in Ordnung? Wieso zitterst Du so?« Elena schüttelt besorgt die Hand ihrer Mutter. Die fühlt sich wie gelähmt. »Steht etwas Schlimmes auf der Tafel? Kannst Du mir das bitte vorlesen?« Elenas Fragenbombardement kann Priska im Augenblick nicht standhalten.
»Ich muss mich setzen«, murmelt sie und hockt sich direkt auf den nassen Kies. Elenas violette Augen mustern sie besorgt. Dann kuschelt sich das Kind auf ihren Schoß. Etwas in Priska drängt panisch zum Aufbruch. Wenn das der Ort ist, an dem sie sterben soll, müssen sie zusehen, dass sie so schnell wie möglich von hier fortkommen. Doch sie fühlt sich gerade nicht einmal dazu in der Lage, den Autoschlüssel ins Zündschloss zu stecken.

Es mögen vielleicht dreißig Sekunden verstrichen sein, da hört Priska, wie ein Auto auf den Parkplatz rollt. Alarmiert hebt sie den Kopf. Ein silberner Mercedes hält neben ihrem alten Kombi. Heraus steigt eine Frau in Priskas Alter. »Hallo«, ruft sie aufgeregt und winkt in ihre Richtung. Während sie auf Priska und Elena zueilt, löst sich eine blonde Strähne aus ihrem Haarknoten und kurz darauf kommt sie ins Straucheln, weil der Absatz ihres linken Pumps im Schotter hängenbleibt. Ein wenig Normalität in diesem wahrgewordenen Alptraum. Priska erhebt sich mit wackeligen Beinen. Ohne dabei jedoch ihr Kind auch nur einen Moment loszulassen. Die blonde Frau ist nun bei ihnen angelangt. Von dem Marterl nimmt sie keinerlei Notiz. Ihre klaren, blauen Augen sind auf Priska geheftet.
»Können Sie mir helfen? Bitte!« Ihre Stimme überschlägt sich fast.» Mein Sohn hat auf der Fahrt von Innsbruck plötzlich hohes Fieber bekommen. Wir brauchen dringend einen Arzt. Aber mein Tank hat scheinbar ein Leck. Ich verliere Benzin. So kann ich unmöglich weiterfahren.«
»Ich verständige den Notarzt«, murmelt Priska. Sie steht noch immer völlig neben sich. Doch es macht keinen Sinn, diese Unbekannte darüber zu informieren, dass sie selbst in zwei Stunden vielleicht schon Geschichte ist. Mechanisch zieht sie das Handy aus ihrer Tasche und will bereits die 112 wählen. »Kein Empfang«. Sie und die blonde Frau sagen es gleichzeitig. Ungläubig schüttelt Priska den Kopf.
»Ja, mir ging es eben genauso«, erklärt die Hilfesuchende hastig. »Doch ich hatte gehofft, dass nur mein Handy spinnt. Können Sie mich nicht bis nach Matrei mitnehmen? Dort gibt es bestimmt einen Arzt.« Flehend blickt sie Priska an. Zu Elena sagt sie: »Mein Sohn dürfte in Deinem Alter sein. Er ist fünf.«
Elena antwortet nicht. Stattdessen presst sie sich noch ein wenig fester an ihre Mutter. Priska weiß nicht, was sie tun soll. Es widerstrebte ihr zutiefst, wildfremde Menschen in ihr Auto zu lassen. Schon allein wegen Elena. Zudem befindet sie sich gerade nicht in der besten Verfassung, um auch noch die Verantwortung für zwei weitere Menschen zu übernehmen. Andererseits würde sie es sich nie im Leben verzeihen, wenn der kranke Junge ihrem Misstrauen zum Opfer fiele.
»Ich bin übrigens Marlene. Marlene Weber. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich erst jetzt vorstelle, aber ich bin völlig runter mit den Nerven.« Ein harmloser, bodenständiger Name. Schnörkellos und ebenso beruhigend, wie ihr Aussehen und Verhalten. Aber vielleicht ist gerade das die Absicht dahinter? Forschend blickt Priska in Marlenes meerblaue Augen. Auf der Suche nach einem dunklen, onyxfarbenen Schimmer. Doch da ist nichts.
»Ich heiße Patricia … Patricia Lautenbach.«
Marlene scheint zu stutzen. Ein Augenblick, so kurz wie ein Wimpernschlag. Dann streckt sie Priska ihre Hand entgegen. Elena scharrt mit den Füßen im Kies und stiert auf den Boden. Die langen Locken verdecken ihr Gesicht. Falls sie überrascht ist, dass ihre Mutter einen falschen Namen genannt hat, lässt sie es sich zumindest nicht anmerken. Marlenes Hand schwebt noch immer in der Luft.
»Bitte halten Sie mich nicht für unhöflich. Aber wir sind auch etwas krankheitsanfällig. Da schüttele ich lieber so wenig Hände, wie möglich.« Eine weitere Notlüge.
»Ja, das kann ich verstehen.« Marlene zieht die Hand zurück. Ihr Gesichtsausdruck ist noch immer freundlich. Ihr Blick wandert zum Mercedes. «Ich möchte nicht drängeln, aber Jeremias braucht wirklich dringend einen Arzt. Und ein fiebersenkendes Mittel. Und ich möchte ihn auch nicht länger allein lassen. Er schläft auf dem Rücksitz.« Während sie zu ihrem Wagen zurückläuft, ruft sie: »Kommen Sie?«
Priska und Elena folgen ihr zögernd. Eigentlich lag Priska noch ein anderer Vorschlag auf der Zunge. Am liebsten hätte sie nur den Jungen mitgenommen und Marlene gebeten, bei ihrem Auto auf den Abschleppdienst zu warten. Doch die Worte der anderen Mutter zeigen deutlich, dass sie sich unter keinen Umständen von ihrem Kind trennen wird. Und sei es auch nur für eine halbe Stunde. Priska kann es ihr nicht verübeln. Priska würde genauso handeln. Außerdem will Marlene im Grunde das Gleiche wie sie: Weg von hier. Wenn sie der Feind ist, kann es doch nicht in ihrem Interesse sein, diesen Ort zu verlassen? Priska blickt zur Schlucht hinüber. Hohe Bäume verdecken den Abgrund. Soll sie dort hinunterstürzen? Seltsam. Hat sie etwa jahrelang für diesen Abgang geprobt? Am Rande der Schlucht stehend und sich fragend, wie es sich wohl anfühlte. Der freie Fall. Und dann der Aufprall. Bei dem Gedanken war sie immer sofort mehrere Schritte zurückgewichen. Nein, trotz all ihrer Probleme und depressiven Anwandlungen verspürt sie keinerlei Todessehnsucht.

Inzwischen sind auch Priska und Elena bei den Autos angekommen. Marlene hebt gerade ihren Sohn aus dem Kindersitz.
»Ohje, der Kleine sieht wirklich nicht gut aus«, entfährt es Priska. Der Junge schläft so tief, dass er beinahe bewusstlos zu sein scheint. Seine Haut ist wächsern und unter den geschlossenen Augen zeichnen sich violette Ringe ab. Das blonde Haar wirkt stumpf und plattgelegen. So, als sei er schon eine ganze Weile in diesem komatösen Zustand. Schnell eilt Priska zu ihrem Wagen und öffnet die Beifahrertür für die Marlene und Jeremias.
»Ich kann ihn Dir abnehmen, bis Du eingestiegen bist«, bietet sie Marlene an und streckt schon ihre Arme nach dem Kind aus.
Doch Marlene presst den Jungen nur noch etwas fester an sich und murmelt: »Danke, das geht schon.«
Als Marlene Platz genommen hat, geht Priska mit Elena nach hinten. Erst jetzt fällt Priska auf, dass Elena kein einziges Wort mehr gesprochen hat, seit Marlene aufgetaucht ist.
»Alles in Ordnung, mein Schatz?«, flüstert sie, während sie Elena anschnallt.
»Eleonore will mir dringend etwas sagen. Aber ich kann sie nicht verstehen. Sie ist zu weit fort.« Elena hat ebenfalls sehr leise gesprochen. Marlene scheint nichts gehört zu haben. Ihr blonder Haarschopf ist nach vorne gebeugt. Sicher ist das Einzige, an das sie momentan denken kann, das Wohlergehen ihres Sohnes. Mit weichen Knien geht Priska nach vorne. Als sie die Fahrertür schließt, zuckt sie kurz zusammen. Nun ist es beschlossene Sache. Sie werden die beiden Fremden mitnehmen. Aber bis Matrei ist es nicht weit. Und jeder Kilometer, der sie von dem unheimlichen Marterl wegbringt, ist ein Gewinn. Die Uhr am Armaturenbrett sagt ihr, dass inzwischen zehn Minuten vergangen sind. Es ist Punkt zwölf. »Um zwölf war sie fort und um eins schon dort.« Priska ist kurz versucht, noch ein paar Minuten zu warten. Nur, um die Prophezeiung Lügen zu strafen. Aber vielleicht hat sie sich geirrt und es stand doch ein anderer Name an der Tafel. Gut möglich, dass sogar das gesamte ominöse Marterl eine Sinnestäuschung war. Kurz bevor sie den Parkplatz verlassen, blickt Priska in den Rückspiegel. Das Mahnmal steht leider noch immer dort. Und darunter flackert eine unruhige Flamme. Die Kerze brennt. Priska fühlt Panik in sich aufsteigen. Ihre Hände zittern so stark, dass sie kaum das Lenkrad halten können. Krampfhaft versucht sie, sich zu beruhigen. Angst bringt sie jetzt auch nicht weiter. Das Wichtigste ist jetzt, dass sie sich auf die Straße konzentriert. Jeremias sollte angeschnallt auf der Rückbank sitzen und nicht vorne auf dem Schoss seiner Mutter. Eigentlich hätten sie sogar den Kindersitz aus dem Mercedes aus- und in ihrem Wagen einbauen müssen. Schon eine scharfe Bremsung kann ihm zum Verhängnis werden. Inzwischen hat der Regen wieder eingesetzt. Die grauen Wolken scheinen bis auf den Boden hinunterzureichen. Dichter Nebel beschränkt die Sichtweite auf unter fünfzig Meter. Und zu allem Unglück sind auch die Fliegen noch da und führen ihr enervierendes Tänzchen an der Windschutzscheibe fort.
»Danke«, sagt Marlene schlicht. »Wir wissen Ihre Hilfe zu schätzen.«
»Schon in Ordnung. Ich hoffe nur, dass wir heil ankommen.« Priska beugt sich nach vorne und klebt jetzt mit der Nase fast an der Frontscheibe. Um sie herum sirrt es. Mittlerweile dürfte es mehr als ein Dutzend Fliegen sein, aber sie hat keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nur fort von hier.
»Ein schönes Puppenhaus hast Du da«, wendet sich Marlene an Elena und blickt dabei in den Innenspiegel.
»Ja, das hat mein Papa gebastelt«, antwortet Elena zögerlich.
»Und wer wohnt in diesem gemütlichen Heim?«
Priska weiß nicht, ob sie erfreut oder irritiert darüber sein soll, dass Marlene sich so interessiert an dem Feenhäuschen zeigt. »Bitte erzähl ihr nichts von Esmeralda«, beschwört sie Elena still. .
»Meine Puppe. Aber die habe ich leider zu Hause vergessen.«
Priska seufzt erleichtert auf. Marlene mustert sie kurz. »Das ist aber schade«, erwidert sie schließlich nachdenklich.
Der Nebel wird dichter. Priska orientiert sich am Mittelstreifen. Meter um Meter kämpft sie sich so voran. Was nicht von den Scheinwerfern erfasst wird, geht in der grauen Suppe unter. Kein Wunder, dass bei diesem Wetter niemand vor die Tür geht. Trotzdem ist es eigenartig, dass ihnen seit Ewigkeiten kein anderes Auto mehr begegnet ist. In Priska regt sich eine Ahnung, dass sie dem Alptraum noch lange nicht entflohen sind. Sie stecken mittendrin. Und das Schlimme daran? Aufwachen ist unmöglich. Priska wirft Marlene einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie klammert sich an ihren Sohn wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Auf dem blassen Kindergesicht haben es sich zwei Fliegen bequem gemacht. Eine putzt sich gerade. Marlene scheint es nicht zu bemerken. Offensichtlich ist sie sogar selbst ein Magnet für die kleinen Plagegeister. Sie sitzen überall. Auf ihrem Kopf, ihren Armen, ihren Oberschenkeln und Knien. Doch welchen Sinn hätte es, sie darauf anzusprechen? Solange sich die andere Frau nicht gestört fühlt, ist es Priska gerade recht, dass nicht noch zehn weitere Fliegen um sie herum schwirren. Ihr Blick wandert zur Geschwindigkeitsanzeige. Sie hat das Gefühl, dass sie immer langsamer werden, aber die Tachonadel zeigt nach wie vor sechzig Stundenkilometer an. Schneller traut sich Priska nicht zu fahren bei diesen katastrophalen Sichtverhältnissen. Wahrscheinlich liegt es nur daran, dass alles gleich aussieht. Deshalb hat sie den Eindruck, nicht vom Fleck zu kommen. »Wieso lügst Du Dir eigentlich dauernd selbst in die Tasche?«, schilt sie sich in Gedanken. »Damit ich nicht durchdrehe«, lautet die pragmatische und ebenso stille Antwort.

Wie geht das gleich nochmal? Visualisieren?

Während Priska krampfhaft weiter den weißen Streifen auf der Mittellinie folgt, versucht sie, sich das Lokal in Klausen vorzustellen. Das mit der unscheinbaren Fassade und der wunderschönen Sonnenterrasse. Die meisten Touristen hasten an dem dunklen, etwas zurückgesetzten Eingang vorbei. Doch die Eingeweihten wissen, dass sich hinter jener schmalen Pforte das Paradies eröffnet. Schnell den großzügigen Gastraum durchqueren und durch den Hintereingang auf die lichtüberflutete Veranda hinaustreten. Kleine, runde Tische mit bunt karierten Decken. Zierliche Stühlchen mit bequemen Sitzkissen. Und hinter der Balustrade der glitzernde Eisack. Wie oft war sie mit Ranieri dort gesessen? Einen großen Teller dampfender Pasta vor sich. An den Lippen ein Glas mit vollmundigen, dunkelrotem Lagrein. Und zu ihren Füßen ein paar freche Spatzen, mit denen sie lächelnd das köstliche Weißbrot teilen.

Beim Gedanken an die in freundliches und warmes Licht getauchte Terrasse spürt Priska, wie schmerzlich sie die Sonne vermisst. Sie kann es kaum erwarten, endlich dieser lähmenden Tristesse zu entfliehen. Trotz des Adrenalins, das durch ihre Adern rauscht, fühlt sie sich seltsam schwer und träge. Wenn sie jetzt zusätzlich von Müdigkeit übermannt würde, hätte sie noch ein Problem mehr. Erneut sieht sie auf die Uhr. Es ist kurz nach halb eins. Sie müssten doch längst in Matrei angekommen sein. Am Rande ihres Gesichtsfeldes registriert sie plötzlich ein schwaches Licht. Es bewegt sich parallel zu ihnen, besitzt jedoch nicht die Kraft, den Nebel zu durchbrechen. Was mag das nur sein? Ein Hoffnungsschimmer?

»Mama, es werden immer mehr Fliegen!« Elena klingt verängstigt. Sie hat recht. Es gibt mittlerweile kein Plätzchen mehr, das nicht von einer Fliege besetzt worden ist. Und um ihre Köpfe schwärmen schwarze Wolken. Priska weiß, wer sie schickt. Doch sie hat keine Ahnung, wie sie dieser Plage Herr werden soll.
»Mach lieber den Mund zu, mein Schatz. Und halte Dir am besten die Hände vors Gesicht. Ich will nicht, dass Du eines der Viecher verschluckst oder einatmest. Wir müssen jeden Moment da…« Priska schafft es nicht, ihren Satz zu beenden. Das, wovor sie ihre Tochter warnen wollte, passiert ihr selbst. Eine Fliege hat sich in ihren Mund verirrt. Oder ist sie absichtlich hineingekrochen? Das Insekt vibriert und schabt an Priskas Schleimhäuten, während es auf ihren Rachen zusteuert. Priska röchelt und spuckt die Fliege angewidert aus. Obwohl sie ihre brennenden Augen ohne Unterlass auf die Straße gerichtet hält, bemerkt sie, dass Marlene sie mustert. Kurz löst Priska ihren Blick von der Windschutzscheibe und richtet ihn auf die Frau neben ihr. Lächelt sie etwa? Priska ist sich nicht sicher. Und ist es nur Einbildung – oder sind ihre Augen dunkler geworden?
»Bitte entschuldigen Sie. Aber das sah eben ziemlich komisch aus«, erklärt Marlene kichernd. Angesichts der prekären Situation, in der sie sich befinden, wirken ihre Worte reichlich deplatziert. Verwirrt wendet sich Priska wieder der Straße zu. Sie ist froh, dass Marlene und Jeremias neben ihr und nicht bei Elena sitzen. Endlich gesteht sie sich ein, dass ihr Bauchgefühl sie nicht getrogen hat. Mit der Frau stimmt etwas nicht. Und ihr Sohn hängt die ganze Zeit wie eine leblose Stoffpuppe in ihren Armen. Atmet er überhaupt noch? Jetzt ist es auch schon egal. Bald würden die Masken ohnehin fallen. Instinktiv greift Priska zu dem Kind hinüber, um seinen Puls zu fühlen. Doch Marlene schlägt ihre Hand grob zur Seite, noch ehe es Priska gelingt, Jeremias auch nur anzufassen. Jäh zuckt sie zurück. Marlenes Berührung fühlt sich an wie der Biss der Kreuzspinne letztes Jahr. Nur hundertmal so stark. Das Gift legt sich direkt auf Priskas Atemwege. Geschockt schnappt sie nach Luft und kann von Glück reden, dass sie dabei nicht noch eine Fliege inhaliert. Es fällt ihr immer schwerer, sich auf das Fahren zu konzentrieren und das Lenkrad gerade zu halten. Absichtlich meidet sie Marlenes Blick. Sie spürt überdeutlich, dass die Frau sie anstarrt. Die Insekten an der Frontscheibe haben sich mittlerweile zu einem beweglichen, schwarzen Teppich formiert. Priska bleiben nur kleine Gucklöcher, durch die sie Ausschnitte der Straße erkennen kann. Es grenzt an ein Wunder, dass sie noch keinen Unfall gebaut hat. Unmöglich kann sie so weiterfahren. Ihre Energie ist aufgebraucht. Und mittlerweile ist sie überzeugt davon, dass sie Matrei auf diesem Wege niemals erreichen.

»Nach der nächsten Biege kannst Du halten«, hört sie Marlene sanft sagen. »Du hast es gleich geschafft…Priska…« Obwohl es einerlei ist, fällt Priska die veränderte Anrede auf. Im Zeitlupentempo quält sie sich um die Kurve. Die Kerze brennt noch immer. Ihr roter Schein weist ihnen den Weg. Es ist zehn vor eins, als sie erneut auf dem Platz neben der Schlucht halten.

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