Von jung und angejahrt in Wort und Bild

„Wenn die Toten reden“ – „Gothic Girl (Teil 4)“

Zunächst wünsche ich euch allen natürlich einen angenehmen Start in die Adventszeit! Möge sich der Stress in den kommenden Wochen in Grenzen halten, auf dass wir alle die Vorweihnachtszeit auch ein wenig genießen können. 

Wir haben heute Nachmittag einen Christkindlmarkt mit Hexen- und Perchtentanz besucht. War sehr urig und schön. Und die Kinder haben erstaunlich viel Mut bewiesen. Das Eiliensche hat einer der Hexen sogar die Hand geschüttelt. : D

Hier nun last but not least der vierte Teil meiner kleinen Spukgeschichte:

~♱ Gothic Girl (Teil 4) ♱~

Sabine hatte schon lange nicht mehr das Gefühl, nach Hause zu kommen. Früher war es das mal gewesen – ein warmer Ort, der Sicherheit und Geborgenheit vermittelte.

Daheim wie heimelig.

Doch inzwischen hatte dieses Gebäude eher etwas von einem hundertfünfzig Quadratmeter großen Schrein.

Beklemmung breitete sich in ihr aus, als sie ihren Trenchcoat neben den Wollmantel ihrer Mutter hängte und ihre Stiefel neben deren klobige, orthopädische Schnürschuhe stellte.

Die abgestandene Luft verstärkte ihr Unbehagen. Sowohl das seelische als auch das körperliche. Der Mief hier katapultierte ihre Kopfschmerzen auf ein ganz neues Level.

„Mensch, Papa! Wann hast du denn zum letzten Mal gelüftet?“
Sie rannte ins Wohnzimmer und riss das Fenster auf. Dabei fiel ihr Blick auf das Nackenhörnchen und die Patchworkdecke auf dem Sofa. Und auf die Pantoffeln daneben. Es sah so aus, als hätte sich ihre Mutter gerade zu einem kleinen Nickerchen entschlossen. Nur lag da niemand auf der Couch. Zumindest niemand, den Sabine hätte sehen können.

Als Hannes kurz darauf vier statt drei Kaffeegedecke auf den Esstisch stellte, hatte Sabine sich bereits wieder an die imaginäre Gegenwart ihrer Mutter gewöhnt. Wohlweislich setzte sie nicht auf deren Stammplatz auf der Eckbank. Ihr Vater beäugte sie kritisch, als sie sich als Vorspeise eine weitere Ibuprofen einverleibte.

„Warst du schon beim Arzt wegen deiner Kopfschmerzen?“, fragte er sie.

„Ja“, entgegnete Sabine kurz angebunden. „Ist nichts Schlimmes. Nur eine Nebenwirkung eines anderen Medikaments. Das gibt sich wieder.“

„Hm, deine Mutter versucht gerade, mir etwas zu sagen …“, setzte Hannes an, doch Sabine unterbrach ihn unwirsch:
„So sehr ich Mamas Meinung immer geschätzt habe – in dem Fall vertraue ich lieber dem Spezialisten. Nix für ungut.“

Auch wenn sie froh war, dass ihr Vater nicht wegen der anderen Präparate nachgehakt hatte, machte es sie nervös, wenn er so tat, als würde Maria nicht nur mit ihnen am Tisch sitzen, sondern zu allem Überfluss auch noch an ihrer Unterhaltung teilnehmen. Vielleicht meldete sich da ihr schlechtes Gewissen. Jedenfalls wurde ihr bei dem Gedanken daran, dass es für ihren Vater das Normalste der Welt zu sein schien, mit seiner toten Frau zu sprechen, noch mulmiger in der Magengrube als ohnehin schon. Zumal Hannes sehr zurückgezogen lebte. Wahrscheinlich war Marias Geist sogar sein Hauptansprechpartner. Und dieser Umstand appellierte an Sabines Verantwortungsgefühl. Sie wusste wirklich nicht, ob es noch vertretbar war, dass Hannes in dieser Verfassung weiterhin allein lebte. Andererseits schien er bis auf das Lüftungs- und ein minimales Staubproblem gut zurechtzukommen. Und als sie ihn beim letzten Mal vorsichtig gefragt hatte, ob er sich auch vorstellen könnte, in ihre Nähe zu ziehen, hatte er sie total weggeblockt.

Gut, ihre eigene Antwort eben war nicht weniger abweisend gewesen. Sie war halt ihres Vaters Tochter. Der wiederum warf nun der leeren Bankecke einen vielsagenden Blick zu und Max grinste mit gesenktem Kopf in sein Smartphone hinein. Oft genug hatte Sabine ihm gesagt, dass es unhöflich war, am Esstisch mit dem Handy zu spielen, aber das Ding schien inzwischen regelrecht mit ihm verwachsen zu sein und die Stimmung wäre ohne dieses gewohnte Alltagsbild – Max am Handy – wahrscheinlich noch beklemmender.

Und dazu noch ihr dröhnender Schädel. Heute war es wirklich besonders schlimm. Nachdem sie gemeinsam den Tisch abgedeckt und die Spülmaschine eingeräumt hatten, entschuldigte sich Sabine und zog sich in ihr altes Kinderzimmer im ersten Stock zurück, das ebenfalls noch so aussah wie vor vierzig Jahren. Sie würde versuchen, eine halbe Stunde zu schlafen. In der Hoffnung, dass ihr Kopf danach etwas Ruhe gab und sie gewappnet für die Heimfahrt wäre.

Fröstelnd nahm sie die Tagesdecke vom Bett und kuschelte sich in das nach Lavendelsäckchen duftende Bettzeug ein. Sie wollte nicht wissen, wann ihr Vater die Bettwäsche zuletzt gewechselt hatte, aber es war verdammt kalt hier oben. Scheinbar heizte Hannes derzeit nur mit dem Kachelofen im Wohnzimmer. Was auch irgendwo verständlich war, da er sich lediglich zum Schlafen in den ersten Stock begab.
Doch kaum hatte sie die Augen geschlossen, hörte sie leise Schritte die Treppe heraufkommen. Das konnte eigentlich nur ihr Sohn sein, obwohl der normalerweise jedem Trampeltier Konkurrenz machte. Hannes Hinken klang anders.

„Max, was brauchst du denn?“, rief sie Richtung Flur.

Keine Antwort. Die Schritte verstummten kurz. Um sich kurz darauf Richtung Bastelzimmer zu bewegen. In diesem kleinen Raum hatten Sabine und ihre Mutter früher gerne zusammen gewerkelt. Die entsprechenden Utensilien waren dort noch immer in diversen Schubladen und Kisten verstaut. Ein Paradies für Handarbeitsfreunde. Aber was wollte Max dort? Eine Runde entspanntes Häkeln wäre sicher eine super Alternative zum Handy-Tetris?

Sabine kicherte in sich hinein. So lange, bis sie ihren Sohn im Erdgeschoss sagen hörte: „Alles klar, Opa! Der Ofen läuft wieder.“

„Einen wie dich könnte ich hier gut gebrauchen!“, erwiderte Hannes prompt. Seine Stimme kam ebenfalls aus dem Wohnzimmer.

Wie war das möglich? Wer war dann die Treppe heraufgekommen? Sie hatte die Schritte doch ganz deutlich gehört. Drehte sie jetzt wirklich völlig durch? So konnte sie jedenfalls nicht einschlafen. Mit einem Seufzer befreite sie sich aus ihrer kuscheligen Lavendelwolke und schwang die Beine über die Bettkante.

Der Flur lag fast völlig im Dunkeln. Lediglich ein schwacher Lichtschimmer drang vom Erdgeschoss nach oben. Aus dem Augenwinkel meinte Sabine zu ihrer Linken eine Bewegung wahrzunehmen, aber als sie mit klopfendem Herzen ihren Kopf Richtung Bastelzimmer wandte, konnte sie nichts Ungewöhnliches erkennen. Endlich hatte sie den Lichtschalter erreicht. Sie atmete erleichtert auf, als die altmodische Deckenleuchte über ihr aufflammte und die Finsternis mit all den Schatten, die diese beherbergte, vertrieb.

„War jemand von euch gerade hier oben?“, rief sie mutig die Treppe hinunter. Einfach hinunterzustürmen, wäre einer Kapitulation gleichgekommen. Einer Kapitulation vor der starken Schwäche ihres maroden Geistes. „Ich dachte, ich hätte Schritte gehört.“

„Keine Sorge!“, erwiderte Hannes prompt. „Das war nur Maria. Du weißt doch: Sie strickt immer noch gerne ein wenig im Anschluss an den Nachmittagskaffee.“

Prompt meinte Sabine, aus dem Bastelzimmer ein leises Knarzen zu hören. Es klang, als würde jemand im Schaukelstuhl sitzen und langsam vor- und zurückwippen. Sabine hatte nicht gewusst, dass dieses harmlose und eigentlich doch so vertraute Geräusch sie derart erschrecken konnte. Sie zitterte. Nicht nur aus Angst, sondern auch vor Kälte. Es war auch vorher schon nicht warm gewesen hier oben, aber nun schien die Temperatur noch um ein paar Grad gefallen zu sein.

Als Sabine ihren Atem, den sie unbewusst angehalten hatte, ausstieß, wunderte sie sich nicht, dass die warme Luft kurz als weiße Wolke vor ihrer Nase schwebte, bevor sie sich endlich verflüchtigte. Wieder wollte sie weglaufen. Und wieder entschied sie sich dagegen. Die Worte des Geistermädchens klangen in ihren Ohren: „Lauf weg und du bist wirklich tot.“

Mit weichen Knien schlich sie zum Bastelzimmer hinüber und versuchte, vor ihrem inneren Auge einen leeren Schaukelstuhl zu visualisieren, statt einen mit ihrer Mutter darin.

Die Tür war angelehnt, doch drinnen war es dunkel. Hastig schob Sabine einen Arm durch den Türspalt und tastete nach dem Lichtschalter. Das Blut rauschte in ihren Ohren und dennoch hörte sie es wieder oder immer noch: das leise Ächzen des Schaukelstuhls. Sie schlug sich die freie Hand reflexartig vor den Mund, aber im Grunde war das völlig unnötig. Gerade hatte sie sogar zum Schreien zu viel Angst. Es war eine andere Angst als die, die sie in Gegenwart des Geistermädchens gepackt hatte. Das Grauen, das ihr jetzt langsam unter die Haut kroch, war sanfter, aber auch unberechenbarer. So bizarr die Konfrontationen mit dem Gruftie auch gewesen sein mochten – sie hatten Sabine dennoch das Gefühl vermittelt, sie könnte in gewisser Weise steuern, was geschah. Das war hier nicht der Fall.

Dennoch schaffte sie es, den Kippschalter zu betätigen. Dass nicht nur Schatten, sondern auch echte Geister die Helligkeit scheuten, war doch ein ungeschriebenes Gesetz.

Oder nicht?

Trotzdem hämmerte Sabines Herz wie blöd, als sie die Tür langsam öffnete. Natürlich fiel ihr Blick sofort auf den Schaukelstuhl in der Mitte des Raums.
Anders als in ihrem krampfhaft heraufbeschworenem Kopfszenario war er leider nicht leer.

Und obwohl Sabine die durchscheinende Gestalt mit den verschwommenen Konturen, welche in irritierendem Kontrast zu den harten Holzstreben der Rückenlehne standen, nur von hinten sehen konnte, zweifelte sie keine Sekunde daran, dass es ihre Mutter war, die sich da in andächtiger Pose sanft vor- und zurückwiegte. Der graue Kopf mit dem kleinen akkuraten Dutt, der Sabine – wie eh und je – an einen Buzzer erinnerte und den sie als Kind hin und wieder tatsächlich als solchen benutzt hatte, war ein wenig nach vorne gebeugt. Und plötzlich vernahm Sabine noch ein anderes Geräusch: das rhythmische Klappern von Stricknadeln. Früher hatte es Sabine beruhigt. Jetzt verstörte es sie. Zutiefst.

Doch als das metallische Klicken nun auf einmal verstummte, war das sogar noch viel beängstigender. Denn dass ihre Mutter ihre Handarbeit unterbrach, konnte eigentlich nur eines bedeuten: Sie hatte die Anwesenheit ihrer Tochter bemerkt.
Diese stand wie angewurzelt im Raum und musste hilflos dabei zusehen, wie sich dieses flackernde Schwarz-Weiß-Hologramm im Zeitlupentempo zu ihr umdrehte. Wie würde Mamas Gesicht aussehen?

‚Bitte, lieber Gott, lass es nicht zu entstellt, nicht allzu fürchterlich sein!‘

Es war kein Totenschädel, mit dem sie sich nun konfrontiert sah. Auch kein halb verwestes oder mumifiziertes Antlitz. Es war nicht mehr als eine flimmernde Scheibe mit drei dunklen Vertiefungen. Dort, wo sich normalerweise Augen und Mund befanden. War das wirklich ihre Mutter? Oder hatte sich hier irgendein böser Dämon einen Scherz erlaubt?

In Sabines Kopf rauschte es. Zuerst dachte sie, es sei nur ihr Blut oder dass ihr Kreislauf verrückt spielte. Doch dann formierte sich dieses unkoordinierte Sausen und Brausen … verdichtete sich… zu einem langgezogenenen Ton, der wiederum in ein einziges Wort mündete: „Engelchen!“

Sabine schluckte. Ihr Herz raste.

Ja, richtig. So hatte ihre Mutter sie immer genannt. Vornehmlich dann, wenn sie ihr Kind vor einem Fehler, einer Dummheit bewahren wollte.

Engelchen.

Das Tattoo auf der Stirn des Gruftie Mädchens … das war doch kein Zufall?

Dieser Gedanke flog sie an, um sich gleich darauf in mikroskopisch kleine Partikelchen zu zerstäuben, als sich dieses ätherische Geisterwesen, das vorgab, Mama zu sein, langsam erhob, um sich dann ruckartig auf Sabine zuzubewegen.

Sabine stolperte rückwärts in den Gang hinaus.

Das war zu viel. Viel zu viel. Für sie.

Als ihr Fuß nach hinten ins Leere trat und sie Gefahr lief, das Gleichgewicht zu verlieren und kopfüber die Treppe hinunterzustürzen, ergriff ihr Überlebensinstinkt das Ruder. Und für einen kurzen Augenblick war Sabine völlig klar und frei von Furcht. Sie klammerte sich am Treppengeländer fest und fokussierte den abgesetzten Knauf am Ende statt des gesichtslosen Gespensts, das den oberen Flur entlang und auf sie zuschwebte. Sobald Sabine wieder festen Halt hatte, drehte sie sich um und eilte mit fliegenden Schritten die Treppe hinunter. Sie richtete ihren Blick auf den schmalen, Ganzkörperspiegel neben der Garderobe.

Gleich war sie unten.

Doch ihr Spiegelbild, das ihr ebenso entgegenhetzte, wie sie ihm – das war nicht sie. Oder doch? Das eine Auge des Gothic Mädchens war weit aufgerissen, die leere Höhle des anderen glich einem Abgrund, der Sabine gleich verschlucken würde und das schwarze Haar umwehte ihren Schädel wie ein düsterer Schleier. Doch in der angstverzerrten Miene des toten Mädchens erkannte sich Sabine wieder.

„Max, Max!“, schrie sie wie von Sinnen, während sie die letzte Treppenstufe übersprang und weg von dieser Horrorreflexion und Richtung Wohnzimmer rannte. Fast wäre sie mit Hannes zusammengeprallt, der nun den Gang betrat.

„Sabine, Kind! Beruhige dich!“, sagte er und griff mit zitternden Händen nach ihren noch um einiges stärker bebenden Schultern.

„Mama, was ist los?“ Max schlaksige Gestalt erschien neben der gebückten seines Großvaters. Natürlich hielt er sein obligatorisches Smartphone in der Hand.

„Bitte ruf den Notarzt! Ich muss sofort ins Krankenhaus. Ich glaub, ich mach es nicht mehr lang.“ Dann fiel sie um.

***

Als sie wieder zu sich kam, sah sie nur Weiß. Weiße Wände, weiße Bettdecke, weißes, gleißendes Licht.

„Bin ich im Himmel?“, fragte sie. Ihre Zunge fühlte sich irgendwie pelzig an.

„Nein, du bist im Krankenhaus, Mama“, hörte sie Max‘ Stimme, die sich weniger denn je zwischen diversen, verfügbaren Oktaven entscheiden konnte, neben sich. „Du hast voll die krasse OP hinter dir. Und ich freu mich total, dass du jetzt endlich wach bist.“ Eine warme Hand drückte ihre, die wie ein überfahrenes Tierchen auf der hellen Bettdecke lag und offenbar noch nicht bereit war, sich irgendwie zu regen.

„OP?“, flüsterte Sabine.

„Ja, du hattest eine Hirnblutung.“ Max schluchzte. Und das beschäftigte Sabine fast noch mehr als die Tatsache, dass sie offensichtlich dem Tod gerade so vom Schippchen gesprungen war. Sie hätte ihrem Sohn so gerne über den Kopf gestreichelt, aber noch übten sich ihre Extremitäten im passiven Widerstand.

„Ich hole mal eben jemanden, der sich wirklich auskennt. Opa ist übrigens wieder daheim. Der saß hier die halbe Nacht neben mir. Und ist vor Erschöpfung fast vom Stuhl gekippt.“

Minuten später stand eine Ärztin, deren Namen Sabine leider schon wieder vergaß, kaum dass sie ihn in Erfahrung gebracht hatte, im Raum und informierte Sabine in sachlichen Worten darüber, dass am Vorabend ein Hirnaneurysma aus Sabines linker Schädelhälfte entfernt worden war. Sie hatte Glück gehabt, dass die lebensgefährliche Ruptur wohl erst kurz zuvor erfolgt war.

„Zeit ist Hirn“, erklärte die Neurochirurgin. „Da wir sofort reagieren konnten, werden Sie voraussichtlich keine bleibenden Schäden davontragen.“ Sie räusperte sich. „Ihr Vater und Ihr Sohn sagten, dass Sie über starke Kopfschmerzen geklagt haben. Sind Ihnen noch andere Symptome aufgefallen? Oder woher wussten Sie, dass Sie den Notarzt verständigen müssen?“

„Ich hatte so seltsame Halluzinationen.“ Widerstrebend erzählte ihr Sabine von dem Gothic Girl. Ihre verstorbene Mutter hielt sie allerdings lieber raus aus dieser Sache. Sie wollte nicht verrückter erscheinen als unbedingt notwendig.

„Interessant!“, meinte die Ärztin. Und dass sie sich diesbezüglich erst mit den Kollegen würde beratschlagen müssen.

‚Mit den Kollegen aus der Psychiatrie‘, ergänzte Sabine still. Doch sie brauchte keinen Experten, um zu wissen, dass ihr Unterbewusstsein das Gothic Girl erschaffen hatte, damit sie sich selbst das Leben retten konnte. Das Geistermädchen war niemand anderes als sie selbst – oder zumindest ein Teil, eine dunkle Version – ihrer selbst. Die fremdartige Physiognomie rührte wahrscheinlich daher, dass auch das Aneurysma fremd in Sabines Körper war und ihr Geist es mit aller Macht von ihr abspalten wollte.

Und am Ende hatte der ganze Hokospokus nun doch sein Gutes.

Obwohl sie noch nicht wieder in Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten war, hatte sie das Gefühl, als wäre ihr ein zweites Leben geschenkt worden. Und das, obwohl sie ihr erstes so gering geschätzt hatte.

Was bedeuteten schon eine verunglückte Ehe, all die gescheiterten Beziehungsversuche danach, die Auseinandersetzungen mit ihrem Sohn, seine Motzereien und Schulprobleme sowie die Schrullen und der Eigensinn ihres Vaters im Vergleich zum nackten Leben selbst? Und hatte sie nicht sogar noch viel mehr als das?

Sie liebte und sie wurde geliebt. Und das war doch das Wichtigste überhaupt.

„Opa hat gerade angerufen“, unterbrach Max ihre gedankliche Gratwanderung zwischen Melodramatik und Laienphilosophie. „Oma ist fort. Für immer.“

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3 Kommentare

  1. hypermental

    Also, bei mir wird dieser Beitrag im Reader angezeigt, aber ich bekam trotz Abo keine Nachricht darüber, dass Du ihn veröffentlicht hast – seltsam… ?
    Ich hole mir jetzt einen Kaffee und lese ihn dann…

  2. hypermental

    Chapeau! Die Geschichte hat mir wirklich gefallen! ??
    ▫️Ich bewundere diesen subtilen Grusel – eben nicht Holzhammerhorror mit Splattereffekten, wie sie eher ein männlicher Autor einsetzen würde. Diesen feinsinnigen, „federleichten“ Grusel (in heutigen Zeiten des Action-Overkills fast schon altmodisch wirkend), kann wahrscheinlich nur eine weibliche Autorin erzeugen – eine echte „Federfarbenfee“… ?

    • Federfarbenfee

      Vielen Dank fürs Lesen und für dein schönes Feedback, lieber Hyper! Interessant, dass du den „Horror“ in dieser Geschichte tatsächlich als subtil empfindest. Das war zwar mein Ziel, aber zwischendrin hatte ich eher den Eindruck, ich würde den Lesern eins mit der gusseisernen Bratpfanne überziehen. 😉 Und ich hab mich auch gefragt, ob der trockene Humor hier nicht eher kontraproduktiv fürs Gruseln ist. Auf Wattpad hat diese Befürchtung bisher zum Glück nur ein Leser bestätigt. Ich muss halt erst langsam wieder reinkommen, in dieses Genre. War ja jetzt lange in anderen Gefilden unterwegs. 😉 Ja, ich bin wirklich ein großer Fan der guten alten Schauerliteratur à la Edgar Allan Poe.

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