Von jung und angejahrt in Wort und Bild

Der Liebe zartherber Schmelz

So, liebe Leute, heute quäle ich euch mit Infos zu meiner NaNoWriMo-Geschichte. Mein Blog muss ja öfter mal einen Spagat zwischen Themen und Lesergruppen bewältigen, die von Haus aus nicht unbedingt kompatibel sind. 😉 Meine Befürchtung ist immer, dass aus dem Spagat irgendwann eine Grätsche wird, die ich hier hinlege, wenn ich den Bogen überspanne. Bisher bestand der Hauptkonflikt vor allem in der Mischung von kinderbezogenen Alltags- und Bastelposts auf der einen, und meinem Gruselroman auf der anderen Seite. Da ich offensichtlich ungewöhnlich tolerante Leser habe, wofür ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken möchte, sind etwaige Moralpredigten bisher zum Glück weitestgehend ausgeblieben.

Leider füge ich mit „Der Liebe zartherber Schmelz“ meinen bisherigen Eskapaden eine weitere hinzu.  Eine Liebesegeschichte ist ja nun per se nichts Verwerfliches, auch wenn ich damit meinen angestammten Genres untreu werde. Doch einer 0815-Lovestory könnte ich nun selbst gar nichts abgewinnen.  Wie gesagt bin ich eher in der Spannungsliteratur zu Hause. Und mit glitzernden Gentleman-Vampiren oder verruchten Bad Boys, die in den Händen unbedarfter, kleiner Mädels plötzlich zu sanften Lämmchen mutieren, habe ich auch nicht soviel am Hut. Was mich allerdings reizt und interessiert, sind Tabubrüche. Und davon wird es in meiner Geschichte den ein oder anderen geben. Derjenige, für den ich vielleicht, wahrscheinlich oder ziemlich sicher Schelte ernten werde, ist ausschließlich im ersten Teil der Geschichte, die in der Jugend der Hauptprotagonistin spielt, ein Thema.  Ich weiß, dass mindestens zwei Lehrerinnen meinen Blog lesen.  Wenn ihr bei „Der Liebe zartherber Schmelz“ nicht auf Ignore schalten möchtet, dann verurteilt mich bitte nicht, ohne tiefer in die Geschichte einzusteigen. Was anfangs wie ein humorvoller Jugendroman wirkt, entwickelt sich beizeiten in eine eher dramatische Richtung. Allerdings ist Ava eine reichlich zynische Person, der das Motto „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, in Fleisch und Blut übergangen ist. Und ich habe nur darauf gewartet, dass ich den Schreibstil, den ich hier größtenteils in den Blogposts pflege, auch irgendwann in eine Geschichte mit einbinden kann. Bei „Am Anfang war Lila“ gibt es schon auch die ein oder andere humorvolle Stelle, aber bei „Der Liebe zartherber Schmelz“ habe ich mich dort, wo es passt, so richtig in die Vollen gestürzt. Das heisst aber bitte nicht, dass ich das Thema nicht ernst nehme oder es,  gerade von Jons Warte aus betrachtet, als Kavaliersdelikt ansehe. Mitnichten!

Da ich Euch die Thematik schonend unterbreiten möchte, vor dem Klappentest zunächst ein Auszug aus meinem Wattpad-Vorwort:

Es geht um eine verbotene Liebe und so einige Regelbrüche. Es ist eine Geschichte voll großer Gefühle. Zum Mitfiebern, Träumen, Lachen und Weinen. Ich habe mir viel Zeit genommen, um es ordentlich knistern zu lassen. Ich mag es, wenn die Funken sprühen, ohne dass man sie gleich mit einem pseudoerotischen Dampfhammer in Form einer uninspirierten Sexszene auf der zweiten Seite plattwalzt. Außerdem bevorzuge ich starke Charaktere. Und auch wenn Ava fünfzehn Jahre jünger ist als Jon und zudem seine Schülerin, muss sie sich weder hinter noch vor ihm verstecken.

Und nun der (noch unausgereifte) Klappentext:

Herbst 1990: Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag verliebt sich Ava Hals über Kopf in den charismatischen Jon. Doch er ist nicht nur fünfzehn Jahre älter, sondern außerdem ihr Deutschlehrer. Eine unmögliche Liebe, die sich dennoch ihren Weg sucht. Ava und Jon werden ein heimliches Paar und  für eine kurze, glückselige Zeit wähnt Ava sich am Ziel ihrer Träume. Bald aber werden ihnen die ungünstigen Umstände doch noch zum Verhängnis. Viele Jahre später kreuzen sich ihre Wege erneut.

So, jetzt ist die Katze aus dem Sack. Schlagt mich (bitte nicht)!

Für diejenigen, denen es jetzt endgültig langt mit dieser Thematik, errichte ich im Folgenden einen kleinen Sichtschutz. Alle anderen können sich, nachdem sie an den Bildern vorbeigescrollt haben, eine XXL-Leseprobe einverleiben. „Der Liebe zartherber Schmelz“ wird kein Blogroman. Derzeit veröffentliche ich den im Rahmen des NaNoWrimos entstandenen, ersten Teil auf Wattpad.  (Link siehe unten.)

Obwohl meine beiden Geschichten völlig unterschiedlichen Genres angehören, so ist ihnen doch eines gemein: Es steckt sehr viel Herzblut in ihnen.

Ein Grund, warum ich für diesen Post so lange gebraucht habe, ist das Cover, das echt keine leichte Geburt war. Ich wollte etwas Schlichtes, nicht zu Kitschiges, aber auch Romantisches. Und etwas, dass die bittere Süße aus dem Titel widerspiegelt. Natürlich kam mir schon bei der Titelerstellung Zartbitterschokolade in den Sinn. Wie sollte es auch anders sein, bei einem Schokoladenjunkie. Und ich dachte sofort daran, mit flüssiger Schokolade zu experimentieren. Aber ohne Hilfe und mit zusätzlichen Herausforderungen (Ämmale!) gestaltete sich das schwierig. Erst, als mein Mann bei der Ideenfindung geholfen und sich dazu bereit erklärt hat, das dunkle Gold vom Löffel tropfen zu lassen, ist DAS Cover entstanden. Eigenlob stinkt, aber es gefällt mir trotzdem. Zuviel Sonne ist allerdings auch nichts, wie man sieht. Da wird die Bitter- plötzlich zur Vollmilchschokolade. Und das ganz ohne Blitz.

Foto-Brainstorming und altbackene Vorläuferversion:

cover_1 img_4318 img_4322 img_4325

img_4429

cover_derliebezartherber_schmelz3

 

Aktuelles Cover und Link zu Wattpad:

cover_zartherberschmelz_neu

Leseprobe:

Kapitel 1-5 (September 1990)

Das sah mal wieder nach einer Punktlandung in letzter Minute aus. Gleich am ersten Schultag nach den Ferien zu spät zu kommen, war nicht unbedingt die feine Art. Das leuchtete sogar Ava ein. Zumal sie schon jetzt diverse Fehltage für die Zeit nach ihrem achtzehnten Geburtstag einplante. Sie konnte es kaum erwarten, sich ihre Entschuldigungen künftig selbst zu schreiben. Und wenn ihre Leistungen stimmten, würden die Lehrer hoffentlich mit einer gewissen Kulanz darüber hinwegsehen, dass sie regelmäßig mit Abwesenheit glänzte. Der Schulweg war bereits leergefegt. Ava war das nur recht. Sie hasste es, sich morgens durch Horden von Schülern aller Altersstufen kämpfen zu müssen. Und vielleicht, zu allem Überfluss, noch von Hinz und Kunz zugetextet zu werden. Was vornehmlich dann passierte, wenn sie gerade einen besonders miesen Tag erwischt hatte. Ava sah sich selbst als den Inbegriff eines Misanthropen. Auch wenn ihre Mutter es als äußerst besorgniserregend erachtete, dass ihrer Tochter dieser Begriff überhaupt geläufig war. Ava vertrat die Ansicht, dass Menschen von Natur aus schlecht waren. Zumindest solange, bis sie Ava vom Gegenteil überzeugt hatten.

Ihr altes Fahrrad ächzte, als sie noch ein wenig kräftiger in die Pedale trat.
»Ja nicht schwächeln auf die letzten Metern«, feuerte sie sich selbst an. Mit Schwung bog sie in die Schulstraße ein und musste dabei einer getigerten Katze ausweichen, die ihr beinahe in die Räder lief. Im gleichen Moment hörte sie neben sich Reifen quietschen. Vor Schreck verlor Ava das Gleichgewicht und fiel vom Rad. Ihre Tasche flog vom Gepäckträger und ihr direkt hinterher. Der Inhalt verstreute sich über die gesamte Kurve. Wie in Zeitlupe registrierte Ava, dass das rote Auto nur wenige Zentimeter von ihr entfernt zum Stehen kam. Völlig paralysiert blieb sie auf dem Boden hocken, während die Fahrertür aufgerissen wurde und ein junger Mann heraussprang.

»Mensch, Mädchen!«, rief er und lief mit langen Schritten auf Ava zu. »Ist dir was passiert?«
»Jetzt komme ich defintiv zu spät«, murmelte Ava.
»Hast du dich verletzt?«, formulierte der Mann seine Frage anders. Er streckte ihr die Hand entgegen. Trotz ihrer Schockstarre stellte Ava fest, dass sie schon seit Ewigkeiten keinen derart attraktiven Typen mehr gesehen hatte. Dabei stand sie eigentlich gar nicht auf blond. Aber diese dunkelblauen Augen verursachten ihre weichere Knie, als der Sturz eben. Zögernd ergriff sie seine Rechte und ließ sich von ihm hoch helfen. Fast war sie ein wenig enttäuscht, als seine warmen Finger sich von ihren lösten. Ava hatte ein ausgesprochenes Faible für schöne Hände. Und bei diesen hier hatte Mutter Natur ganze Arbeit geleistet..
»Hallo? Du bist der deutschen Sprache mächtig, oder?« Seine melodische Stimme hatte inzwischen einen ungeduldigen Unterton angenommen. Doch um seine Mundwinkel zuckte es. »Mir war so, als hättest du eben was gesagt. Oder habe ich mir das nur eingebildet?«
»Mir geht`s gut.« Um nicht endgültig als minderbemittelter Backfisch abgestempelt zu werden, hielt Ava es für besser, ab sofort jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Ihr Gesicht glühte ohnehin schon. Schnell bückte sie sich und klaubte ihre auf der Straße versprengten Habseligkeiten zusammen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass auch er sich in die Hocke begeben hatte und den Collegeblock sowie das kleine Notizbuch in ihre Tasche stopfte.
»Da fehlt doch eindeutig was auf deinen Heften.« Trotz Avas Einsilbigkeit schien er weiter Konversation betreiben zu wollen. Und auch wenn sie ihn nicht ansah, registrierte sie seinen bohrenden Blick.
»Und was sollte das sein?« Ihre Gegenfrage klang schnippisch. Doch tatsächlich klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
»Diddlemäuse sind doch bei Mädchen deines Alters momentan groß in Mode. Aber bei dir gibt es ja nicht einmal einen mickrigen Glitzersticker.«
»Mädchen meines Alters?«, wiederholte sie gedehnt. In ihrem Ärger vergaß sie ganz, dass sie den Kerl nicht mehr ansehen wollte. Zu spät. Hatte die Farbe »Blau« eine hypnotische Wirkung, von der sie nichts wusste? Aus seinen Augen blitzte der Schalk und goldene Punkte tanzten im Meer seiner Iris. Doch Ava hatte nicht vor, die Waffen zu strecken. »Für wie alt hältst du mich denn? Und warum tust du so, als wärest du hundert?« Anstatt sich brüskiert zurückzuziehen, brach ihr gutaussehendes Gegenüber in schallendes Gelächter aus.
»Danke für die Blumen. Ich bin dreiunddreißig.« Seine Zähne blitzten und nun bemerkte Ava auch die hauchfeinen Lachfältchen.
»Hoppla.« Nicht eben eine Glanzleistung in Sachen Eloquenz. Aber eine prägnante Zusammenfassung dessen, was sie gerade dachte. Sie hätte ihn auf Anfang Zwanzig geschätzt. Maximal. »Dann muss ich ja »Sie« sagen.«
»Das kommt darauf an«, erwiderte ihr Gesprächspartner schmunzelnd. Offenbar amüsierte er sich köstlich.
»Worauf denn?« Irgendwie hatte der Kerl, so ansehnlich er auch war, eine Art an sich, die sie im Nullkommanichts auf die Palme brachte. Attraktivität war außerdem relativ und der Typ fast doppelt so alt wie sie.
»Ach, ich glaube, für den Moment war dieser Fast-Unfall Aufregung genug.« Immer noch lächelnd erhob er sich. »Jetzt sieh zu, dass du in die Schule kommst.«
»Jawohl, Herr Lehrer«, konterte sie bissig. Sie sah ihm an, dass er sich mächtig zusammennehmen musste, um einem weiteren Lachanfall vorzubeugen. Hatte Adonis einen Clown verschluckt oder was war jetzt schon wieder so lustig?
»Na, ganz so förmlich muss es auch nicht sein.« Er grinste breit. »Aber im Grunde war das jetzt wohl die korrekte Anrede.«
Zunächst hatte Ava keinen blassen Dunst, wovon er sprach. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Typ war tatsächlich Lehrer. Ava stöhnte innerlich laut auf. Das durfte nicht wahr sein. In den vergangenen Jahren konnte er noch nicht an ihrer Schule unterrichtet haben. Das Hemingway-Gymnasium war nicht gerade klein. Aber solch ein Bild von einem Mann wäre ihr aufgefallen. Fehlte gerade noch, dass sie ihm in einem ihrer Kurse über den Weg lief. Bei dem Gedanken wurde ihr abwechselnd heiß und kalt.
»Erde an Mädchen ohne Namen: Machst du gerade eine Astralreise?«
»So ähnlich. Ich bade in einem gigantischen Fettnäpfchen.« Wenigstens befanden sich ihre Gehirnzellen nicht mehr im Streik. »Ich bin Ava. Ava Wendorf.«
»Jon Keller.« War es verwerflich, dass sie sich insgeheim darüber freute, noch einmal seine schöne Hand halten zu dürfen? Jetzt, wo sie wusste, was er war? Ein „Leerkörper“. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Die kurze Berührung jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Zugleich wäre sie angesichts ihrer albernen Reaktion am liebsten im Erdboden versunken.
»Dann gehe ich jetzt mal. Oder schreiben Sie mir eine Entschuldigung?« Sie wusste selbst, dass sie nur versuchte, ihre Verlegenheit zu überspielen. Hauptsache, ihr Mundwerk funktionierte wieder einwandfrei.
»Nein, da muss ich leider passen. Ich bin eine Autoritätsperson. Vergiss das nicht. Und erfahrungsgemäß mache ich mich noch früh genug unbeliebt im Kollegium. Wenn dir aber irgendwer blöd kommt wegen deiner Verspätung, kannst du mich gerne in den Zeugenstand rufen.“
Eine Hupe ertönte. Hinter Jon Kellers rotem Peugeot hatte sich ein silbernes Schlachtschiff eingereiht und wartete ungeduldig darauf, dass sie endlich die Straße räumten. Mit einem kurzen Blick über die Schulter meinte Jon:
»Ich wünsche dir einen guten Start, Ava. Und vielleicht bis später!«
»Danke. Das wünsche ich ihnen auch. Und keine unschuldigen Mädels mehr umnieten.« Sein Lachen klang wie Musik in ihren Ohren. Ava wartete, bis er die langen, bejeansten Beine in seiner Seifenkiste verstaut hatte. Dann schwang sie sich auf ihr Rad. Winkend fuhren sie aneinander vorbei.

***

Sechzig Augenpaare verfolgten ihren Büßergang von der Tür des Zimmers 210 bis zu den Schulbänken. In der vorletzten Reihe signalisierte ihr Sonja mit spastisch anmutenden Verrenkungsübungen, dass neben ihr noch ein Plätzchen frei war. Zuerst musste sie aber an Claus Nowak, seines Zeichens Kollegstufenleiter und Profilneurotiker allersten Ranges, vorbei. Zwischen ihm und Ava war es Antipathie auf den ersten Blick. Damals in der 9a. Als sie erstmalig mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten und damit ihrem Hassfach Nummer Eins konfrontiert wurde. Der bisherige Höhepunkt ihrer Feindschaft war dann ein Kommentar, den der werte Herr Nowak unter ihre Arbeiten platziert hatte. Mit der übergroßen und kühn geschwungenen Sechs auf der ersten Seite hätte Ava sogar noch leben können. Physik war nun wirklich nicht ihre Stärke und sie zählte bereits seit der ersten Stunde die Tage, bis sie dieses furztrockene Fach endlich abwählen konnte. Aber dass er, der Herr Physiklehrer, sich anmaßte, zu behaupten, das sei kein „deutsch“, was sie da zusammenfabuliert habe, das war echt der Supergau. Sie liebte die deutsche Sprache. Seit sie fünf Jahre alt war, verschlang sie jedes Buch, das sie in die Finger bekam. Und in der Schule war der Deutschunterricht der einzige, den sie nie versäumte. Bereits eine Zwei war für Ava ein kleiner Weltuntergang. Eine Note, für die sie in manch anderem Fach dem Lehrer die Füße geküsst hätte. Ausgenommen Herrn Nowak natürlich.
„Ah, das Fräulein Wendorf hat wahrscheinlich mal wieder auf eine Extraeinladung gehofft.“ Nowaks Stimme triefte nur so vor Süffisanz.
„Ihnen auch einen wunderschönen, guten Morgen“, erwiderte Ava überfreundlich. Sie deutete demonstrativ auf die Stelle oberhalb ihres linken Knies, an dem die dunkle Strickstrumpfhose den Sturz nicht überlebt hatte. „Ich entschuldige mich aufrichtig dafür, dass ich mir erlaubt habe, vom Fahrrad zu fliegen.“ Leises Lachen wehte aus den Schülerreihen zu ihr nach vorne. Skeptisch musterte Nowak das etwas unorthodoxe Indiz. Dann räusperte er sich und wedelte mit den Papieren in seiner Hand Richtung Ava. Als müsste er ein lästiges Insekt verscheuchen.
„Wenn Sie nun die Güte hätten, sich zu setzen. Dann kann ich endlich mit meiner Einführung fortfahren.“
„Liebend gerne.“

In dem Moment, als sie Nowak den Rücken zukehrte, hätte Ava fast die Augen verdreht. Aber sie verkniff sich diesen kindischen Impuls. Sie war schon immer für die direkte Auseinandersetzung. Ganz gleich, in welchem Alter oder welcher Position sich ihr Gegenspieler befand. Erleichtert, dass sie sich in dieser unerquicklichen Situation nicht völlig zum Affen gemacht hatte, ließ sie sich auf den freien Sitzplatz neben Sonja gleiten. Diese knuffte sie freundschaftlich in die Seite. Ihre grünen Augen blitzten.
„Du bist ja schon wieder voll auf Kuschelkurs“, flüsterte sie.
„Mit dem da vorne, meinst du?“ Möglichst unauffällig wies Ava mit ihrem Kinn in Nowaks Richtung. „Ja, du weißt doch – wir sind so:“ Unter dem Tisch hakte Ava ihre beiden Mittelfinger ineinander. Sonja kicherte und kassierte prompt einen bösen Blick vom Herrn Kollegstufenleiter.
„Ich glaube, ich habe den Bogen jetzt endgültig überspannt“, wisperte Ava. „Ich mache jetzt ab sofort lieber mal einen auf Musterschülerin.“ Sonja nickte. Und Ava schaffte es tatsächlich, den Ausführungen von Nowak für ganze zehn Minuten konzentriert zu folgen. Als klar war, dass er die Stundenpläne erst im Anschluss an seinen Sermon austeilen und danach kein Unterricht mehr stattfinden würde, schweiften ihre Gedanken schon wieder ab. Ihr Blick wanderte über die vollgestopften Schulbänke und die Köpfe der Schüler. Die meisten taten mehr oder weniger interessiert, waren aber eigentlich auch nicht bei der Sache. Max zeichnete Comicfiguren in sein Hausaufgabenheft, Marie las in einer Zeitschrift, die sie geschickt vor Nowaks Augen verbarg und Jan zählte die Blätter an den Bäumen oder weiß der Teufel. Lehrer hatten wirklich kein einfaches Los. Wahrscheinlich war Nowak schon froh darüber, dass er seine Litanei in Ruhe herunterbeten konnte, ohne dass irgendwelche Unruhestifter den großen Macker markierten. Sie verkniff sich ein Gähnen und begegnete Ralfs dunklen Augen. Sie erwiderte sein Lächeln und freute sich schon darauf, sich auf dem Heimweg später ein wenig austauschen zu können. Er war wirklich ein dufter Typ und sie schätzte seine treue Freundschaft sehr. Obwohl er genau wusste, wie verkorkst Ava war, hatte er immer zu ihr gehalten. Und er war einer der wenigen Jungs in ihrem Alter, dessen geistiges Niveau nicht im pubertären Chaos versumpft war.
»Hast du eigentlich mitbekommen, dass wir einen neuen Lehrer an der Schule haben? Der hat echt das Zeug zum ultimativen Mädchenschwarm. Ich habe ihn heute Morgen in der Aula gesehen.« Sonja sah nahezu verklärt aus. Und Ava wurde sich selbst von Sekunde zu Sekunde peinlicher. Auf keinen Fall wollte sie zu einem dieser albernen Groupies mutieren, die einem unerreichbaren Idol hinterherlechzen und sich – ganz nebenbei – komplett lächerlich machen. Das fehlte gerade noch. Krampfhaft versuchte sie, die Begegnung mit Jon Keller objektiv zu betrachten. Wahrscheinlich war sie deshalb so empfänglich für romantische Anwandlungen gewesen, weil der Sturz ihr vorübergehend die Zurechnungsfähigkeit geraubt hatte. Ja, so musste es gewesen sein. Sie schwor sich, Keller so gut es ging, aus dem Weg zu gehen. Zumindest solange, bis sich die letzten Schmetterlinge in ihrem Bauch endgültig verpisst hatten.
»Hey, ich rede mit dir!« Sonja sprach zwar leise, aber mit Nachdruck. »Hast du schon einen Blick auf ihn erhaschen können? Er heißt Keller, oder so ähnlich.«
»Ja, ist schon möglich, erwiderte Ava ausweichend. »Sonja, ich muss jetzt echt meine Klappe halten. Nowak sieht aus, als würde er mich am liebsten aus dem Fenster schmeißen.«
»Ok, ok.« Sonja hob abwehrend die Hände. »Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass du echt Dussel hast.«

Ava sah sie nur fragend an. Ihr schwante nichts Gutes.
»Der Neue ist Deutschlehrer. Und jetzt rate mal …« Sonja machte es sichtlich Spaß daran, die Katze so lang wie möglich im Sack zu behalten. Nur blöd, dass der schon total löchrig war.
»Er übernimmt den Deutsch Leistungskurs«, antwortete Ava trocken. Doch ihre Gelassenheit war nur gespielt. In ihrem Magen tanzten die Flattertierchen Samba. Warum sie derart aus dem Häuschen war, konnte sie sich selbst nicht erklären. Sie hatte dem Mann schlappe fünf Minuten gegenübergestanden. Und sie hatten nur über belanglosen Quatsch gesprochen. Und er war alt, Herrgott nochmal. Auch wenn er nicht danach aussah. Außerdem Lehrer. IHR Lehrer.
»Ja, das ist doch super. Ich würde gerne mit dir tauschen.« Sonja seufzte. »Ich muss mit Schnarchnase Siebert vorlieb nehmen. Und …«
»…mit mir«, vollendete Nowak ihren Satz. Er stand direkt vor ihnen und schien alles andere als amüsiert. Sonjas Gesichtsfarbe wechselte in Sekundenschnelle von rosa zu weiss und schließlich zu tomatenrot. Der Kollegstufenleiter knallte ihnen wortlos zwei Seiten Papier auf den Tisch. Die Stundenpläne.
Nowak war schon zehn Bänke weiter und Ava hatte sich noch immer nicht dazu überwinden können, einen Blick auf ihre Kursaufstellung zu werfen. Derweilen studierte und kommentierte Sonja bereits eifrig ihren eigenen Plan. Generell war der Geräuschpegel im Klassenzimmer angestiegen. Doch Ava hatte keine Lust, mit den anderen über die individuelle Stundenverteilung und die verschiedenen Lehrkräfte zu diskutieren. Sie würde sich die Termine zu Hause in Ruhe zu Gemüte führen. Kaum hatte Nowak den offiziellen Teil für beendet erklärt, schnappte sie ihre Tasche und stand auf.
»Sei mir nicht böse, aber ich verzieh mich. Mir geht`s nicht so gut.« Sonja sah sie überrascht an. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ich bin bloß noch etwas neben der Spur wegen des Sturzes.« Das war schließlich noch nicht einmal gelogen. »Morgen bin ich wieder Alte.«
»Wir sehen uns dann in Englisch, oder?« Ava warf einen kurzen Blick auf den Stundenplan. Der Englisch Leistungskurs bildete den Auftakt zu einem vollgepackten Mittwoch. Sie stöhnte.
»Na, na. So schlimm wird es schon nicht werden.« Sonja klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
»Ne, noch schlimmer, vermutlich«, gab Ava zurück. Sie lachten beide. So herzhaft, dass Sonjas dunkelblonde Locken dabei fröhlich wippten.

»Ich sehe, du willst aufbrechen«, schaltete sich in diesem Moment eine männliche Stimme mit ein. »Da würde ich mich glatt anschließen.« Ralf hatte seine Tasche ebenfalls schon geschultert. Sie verabschiedeten sich von Sonja, die sich noch ein wenig Ratsch und Tratsch widmen wollte, und verließen gemeinsam das Gebäude. Schweigend liefen sie nebeneinander zu den Fahrradständern.
»Wie ist das heute Morgen eigentlich passiert?«, fragte Ralf, als sie die Schlösser aufsperrten. »Ich habe dich noch nie vom Rad fliegen sehen. Sogar dann nicht, wenn ich fest damit gerechnet habe, dass du dich gleich langlegst.«
»Ich hab nicht aufgepasst und bin an der Straßenecke vorne fast mit einem Auto kollidiert.«
»Uff, da hast du aber Glück gehabt, dass es so glimpflich ausgegangen ist. Hat der Fahrer dir wenigstens geholfen?«
»Ja, hat er«, erwiderte Ava schroff. Ralf musterte sie erstaunt.
»Bitte entschuldige. Ich bin heute einfach etwas durch den Wind«, versuchte Ava, ihren Faux-Pas wieder auszubügeln. Sie schwangen sich auf die Räder. Als sie die Schule und besagte Straßenecke hinter sich gelassen hatten, fühlte sich Ava gleich viel besser. »Du hast doch jetzt für Bio und Latein entschieden, oder?« , wechselte sie das Thema.
»Ja, ich denke noch immer, dass das die beste Fächerkombination im  Hinblick auf das Medizinstudium ist.« Ralf wollte schon immer Arzt werden. Ava und er kannten sich seit der Grundschule. Und bereits damals stand sein Berufsziel fest. Ava bewunderte Ralf für seine Sicherheit. Sie selbst hatte sogar jetzt noch keine Ahnung, welchen Weg sie beruflich einschlagen sollte.
»Da hast du sicher recht. Aber das werden zwei arbeitsintensive Jahre.« Ava graute es allein schon bei der Vorstellung. Büffeln zu müssen, bis das Hirn kochte, war so gar nicht ihrs. Ralf lachte.
»Ich glaube, im Studium wird es noch wesentlich heftiger zur Sache gehen.« Doch diese Aussichten schienen ihn nicht zu schrecken. Für ihn war der Arztberuf eine echte Berufung. Er scherte sich nicht um Ansehen und Prestige. Nein, Ralf war es ein Bedürfnis, zu helfen. Er wollte Gutes tun. Seine zukünftigen Patienten würden von Glück reden können, einen solch fähigen Arzt gefunden zu haben. Dass Ralf das Studium mit Leichtigkeit meistern würde, stand für Ava außer Frage. Er hatte nicht nur menschlich eine Menge auf dem Kasten. »Hast du dir schon wegen der Fachrichtung Gedanken gemacht«, fragte sie ihn interessiert.
»Hm, ich möchte gerne mit den Menschen als Ganzes zu tun haben. Als Chirurg tauge ich also bestimmt nicht. Die Innere würde zu mir passen, denke ich. Oder vielleicht werde ich auch Gynäkologe.« Schelmisch grinste er Ava an. Mit seinem letzten Satz hatte er sie richtig aus dem Konzept gebracht. Sie merkte, wie sie rot wurde und ihr Fahrrad vollführte einen wenig eleganten Schlenker. Ralf griff geistesgegenwärtig nach ihrem Lenker.
»Hoppla. Ich will nicht daran schuld sein, wenn du heute zum zweiten Mal eine Bruchlandung machst.« Er feixte immer noch. Inzwischen hatte Ava ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Mit gespielter Fassungslosigkeit schüttelte sie den Kopf.
»Du bist scheinbar doch nicht so unschuldig, wie ich dachte«, zog sie ihn auf. »Kommt da die dunkle Seite in dir zum Vorschein?«
»Ja, stell dir mal vor. Den ganzen Tag umgeben von Frauen. Und nackter Haut. Das ist doch der Traum jeden Mannes.« Ralf setzte einen lüsternen Gesichtsausdruck auf. Ava schmunzelte und betrachtete nachdenklich sein markantes Profil. Jetzt, da sie diese Option hatte sacken lassen, erschien sie ihr gar nicht einmal so abwegig. Ralf war der geborene Frauenversteher. Weibliche Wesen fühlten sich auf Anhieb wohl und geborgen in seiner Gegenwart. Er mochte Frauen einfach. Aufrichtig. Und er würde ihnen nie weh tun oder sie ausnutzen. Dessen war sich Ava sicher. Sie wunderte sich, dass Ralf keine Freundin hatte. An Angeboten mangelte es ihm wahrhaft nicht. Er war nicht nur smart und verständnisvoll, sondern obendrein sehr ansehnlich. Wenn Ava ihn nicht schon mehr als ihr halbes Leben lang kennen würde, hätte sie sich vielleicht selbst in ihn verliebt. Doch so war er mehr ein Bruder als ein potentieller Geliebter für sie.

***
Kurz nach der Unterführung trennten sich ihre Wege. Ralf zweigte winkend in die Schillerstraße ein, wo er mit seinen Eltern und seinem Bruder wohnte. Ava hob ebenfalls die Hand und beschleunigte dann ihr Tempo. Sie hatte noch gute zehn Minuten Weg vor sich. Insgesamt fuhr sie fast vierzig Minuten zum Gymnasium im Nachbarsort. Sie hätte auch die Möglichkeit, die S-Bahn zu benutzen. Aber Ava verspürte keine Lust, sich wie eine Sardine mit unzähligen Kindern und Pendlern in ein enges und stickiges Abteil zu drängen. Den Schulranzen des Fünftklässlers vor ihr im Magen und die Zeitung des Anzugträgers neben ihr im Gesicht. Nein, da lobte sie sich die frische Luft und das Freiheitsgefühl beim Fahrradfahren. Jauchzend jagte sie durch das bunte Laub, das in der Allee mit den Ahornbäumen den Weg bedeckte. Der frühe Frost hatte dazu geführt, dass die Bäume dieses Jahr schon frühzeitig ihre Blätter verloren. Ava liebte den Herbst. Das goldene Licht. Die herrlichen Farben. Die Natur verfügte einfach über den schönsten Malkasten.
Und außerdem gab es endlich wieder Dominosteine und Lebkuchen in den Läden. Was für viele eher ein Ärgernis darstellte, war für Naschkatze Ava der Himmel auf Erden. Sie störte sich nicht daran, dass es noch eine Weile hin war, bis Weihnachten. Selbst wenn diese Köstlichkeiten das ganze Jahr über feilgeboten würden, hätte sie nichts dagegen. Bei dem Gedanken an die saftigen Dominosteine lief ihr das Wasser im Mund zusammen und sie entschied sich, noch einen Abstecher in den Supermarkt zu machen, an dem gleich vorbeikommen würde.

Kaum hatte sie das kleine Lebensmittelgeschäft betreten, steuerte sie schon zielstrebig auf die Regale mit der Saisonware zu. Sie griff gerade nach den Dominosteinen mit dem Zartbitterüberzug, als hinter ihr eine entfernt vertraute Stimme ertönte:
»Sieh an, so schnell trifft man sich wieder.« Ava hatte das Gefühl, jemand hätte ihr eine heiße Klinge in die Eingeweide gerammt. Und schwindlig war ihr auch. Langsam drehte sie sich um und blickte direkt in die funkelnden Sternchenaugen ihres zukünftigen Deutschlehrers. Ihre Beine waren plötzlich knochenlos und sie befürchtete ernsthaft, jeden Moment umzukippen. Sie hätte sich dafür umbringen können, dass sie so übertrieben reagierte. Aber ihr bescheuerter Körper machte, was er wollte.
»Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte er im Plauderton, während er die Packung mit den Dominosteinen in ihrer Hand studierte. »Ich bin erst letzte Woche hergezogen und noch etwas orientierungslos.« Freundlich lächelte er sie an.
›Mach den Mund auf, Ava‹, versuchte sie, sich innerlich wieder auf Kurs zu bringen. ›Wenn du nicht willst, dass er dich für komplett bekloppt hält, musst du jetzt schleunigst etwas antworten.‹
»Offensichtlich hat es dir schon wieder die Sprache verschlagen«, konstatierte ihr blondes Gegenüber amüsiert. »Am fehlenden Wortschatz kann es ja nicht liegen. Mit deiner Schlagfertigkeit hast du mich vorher glatt ins Schwitzen gebracht. Und glaub mir: Das kommt nicht oft vor.«
»Ja, ich wohne nur zwei Straßen weiter«, erklärte sie ihm lahm. »Und Sie?« Erschrocken bemerkte sie, dass sie die Dominosteine als Antistressball benutzte. Wenn sie weiterhin so fest zudrückte, würde sie die appetitlichen Schokowürfel noch zu Brei verarbeiten. Schnell legte sie die Packung zur Seite.
»Frühlingsstraße«, entgegnete er knapp, aber noch immer lächelnd. Das war direkt um die Ecke. Und Ava beschlichen erste Zweifel im Hinblick auf ihre Vogelstrauß-Taktik. Es schien unvermeidbar, dass sie sich von nun an häufiger über den Weg liefen.
»Na, wenn Sie einen Fremdenführer brauchen, können Sie gerne auf mich zukommen.« Allmählich regulierte sich ihre Körperchemie wieder. Sie musste nur darauf achten, ihm nicht zu lange in die Augen zu sehen.
»Danke für das Angebot. Komme ich gegebenenfalls gerne drauf zurück.«  Obwohl Ava den Blickkontakt mied, bemerkte sie, dass Keller sie eindringlich musterte. Er schien darauf zu warten, dass sie noch etwas erwiderte. Aber er hatte sie doch gar nichts mehr gefragt. Die Stille zwischen ihnen vibrierte vor Anspannung. Oder kam es ihr nur so vor? Verwirrt hob sie den Kopf. Das Erste, was ihr ins Auge stach, war die steile Falte, die sich auf seiner Stirn gebildet hatte. Was war denn nun los? Hatte sie etwas Falsches gesagt? Ihr Blick wanderte über sein schmales Antlitz und die wenigen Spuren, die das Leben in sein noch immer junges Gesicht gezeichnet hatte. Um schließlich doch wieder an seinen berückenden Augen hängen zu bleiben. Doch sie konnte nicht in ihnen lesen. Nicht auf den verborgenen Grund unter diesem tiefen Blau hinabtauchen.
»Ich habe vorhin erfahren, dass Sie mein neuer Deutschlehrer sind«, platzte es unvermittelt aus ihr heraus. Für einen kurzen Augenblick wirkte er überrumpelt. Er fuhr sich mit der Rechten über seinen dichten Haarschopf, der danach noch zerzauster aussah als zuvor, und sagte dann zögerlich:
»Ja, das stimmt.« Er machte eine kurze Pause. Sein Blick schweifte von ihr weg und über die Gänge des Supermarktes. Als er sie wieder ansah, hatte sich die Falte auf seiner Stirn verflüchtigt und der Schalk war in seine Augen zurückgekehrt. »Du stehst tatsächlich auf meiner Liste.« Drohend hob er den Zeigefinger. »In meinen Kursen herrschen Zucht und Ordnung. Ich lasse mich nicht mit selbstgeschriebenen Entschuldigungen abspeisen. Also denk nicht mal daran.« Auch wenn seine Mundwinkel schon wieder zuckten, überlegte Ava, ob seine Strenge wirklich nur gespielt war. Irgendwie wusste sie überhaupt nicht mehr, was sie denken oder fühlen sollte. Bevor sie nochmal die Contenance verlor, machte sie sich besser aus dem Staub. Was sie sich heute an Peinlichkeiten geleistet hatte, reichte für ein paar Wochen.
»Ich muss jetzt los«, erwiderte sie hastig. »Bis bald!« Schon hatte sie ihm den Rücken zugekehrt und lief eilig auf den Ausgang zu.
»Und was ist mit deinen Dominosteinen?«, hörte sie ihn rufen.
»Ach, passt schon. Mir ist der Appetit vergangen.« Sie wagte es nicht, sich noch einmal zu ihm umzudrehen. Statt dessen flüchtete sie, so schnell es ihre Wackelpuddingknie zuließen, aus dem Geschäft. Als sie atemlos von dannen radelte, kam ihr siedend heiß in den Sinn, dass sie mit dieser letzten Aktion wohl der Höhepunkt der Peinlichkeiten erklommen hatte. Doch nun konnte sie es auch nicht mehr ändern.

Wie ferngesteuert stellte sie ihr Fahrrad in der Garage ab und nestelte nach dem Hausschlüssel in ihrer Schultasche. Im selben Augenblick öffnete sich die Tür und ihre Mutter trat über die Schwelle. »Hallo, Ava!«, begrüßte sie ihre Tochter. »Wie war der erste Schultag?«
»Ganz ok«, murmelte Ava. Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und wollte sich an ihr vorbeistehlen. Im Moment war ihr nicht nach gepflegter Konversation zumute. Doch Ella Wendorf fasste Ava, die sie beinahe um einen Kopf überragte, mit festem Griff an den Schultern und musterte sie skeptisch.
»Du machst aber nicht den Eindruck, als ob es dir gut geht. Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!«
»Mama, bitte. Ich brauche nur etwas Ruhe. Du weißt doch, wie unwohl ich mich in Menschenmengen fühle. Und das heute hat mich einfach gestresst. In ein paar Tagen habe ich mich wieder dran gewöhnt.« Ella wirkte nicht gerade überzeugt, doch sie ließ ihr Kind seufzend gewähren.
»Ich habe frischen Kaffee aufgesetzt. Willst du auch einen?« Ava nickte. Mit zitternden Fingern hantierte sie am Reißverschluss ihrer Stiefel herum. Warum hakte das blöde Teil plötzlich? Sie brauchte eine halbe Ewigkeit, um die Schuhe auszuziehen und zwei Anläufe, um ihren Dufflecoat über den Kleiderhaken zu hängen. Auf Strumpfsocken schlurfte sie in die Küche und holte ihren Lieblingsbecher aus dem Schrank. Ein Stück vom Henkel der XXL-Tasse war bereits abgebrochen und auch sonst sah sie schon etwas ramponiert aus. Aber die bauchige Form und die warmen Braun- und Rottöne vermittelten Ava immer sofort ein Gefühl von Behaglichkeit. Als sie den Becher mit der dampfenden Flüssigkeit füllte und ihr das Kaffeearoma in die Nase stieg, normalisierte sich ihr Puls.
»Mama, ich geh nach oben«, sagte sie, nachdem sie den Kaffee mit Milch und Zucker verfeinert hatte. Genüsslich nippte sie an dem heißen Getränk und spürte, wie ihre Lebensgeister langsam wieder erwachten.
»Alles klar, meine Süße«, erwiderte ihre Mutter. »Ich muss sowieso noch einiges an Arbeit erledigen.« Sie versorgte sich ebenfalls mit einer ordentlichen Koffeindosis und verschwand dann im Arbeitszimmer nebenan. Seit der Scheidung von Avas Vater,  arbeitete Ella wieder Vollzeit als Buchhalterin. An zwei Tagen in der Woche konnte sie von zu Hause arbeiten, wofür sowohl sie als auch ihre Tochter dankbar waren. Ava zupfte den Stundenplan aus ihrer Tasche und stieg dann die Treppe in den ersten Stock empor. Als sie an dem Wandspiegel im Gang vorbeilief, schnitt sie sich selbst eine Grimasse. Sie hatte in der Tat schon besser ausgesehen. Ihr Haarknoten hatte sich gelöst und die langen, dunklen Strähnen fielen ihr ungeordnet über die Schultern und in das blasse Gesicht. Die rehbraunen Augen starrten ihr ausdruckslos entgegen.
»Hallo, Zombie«, begrüßte sie ihr Spiegelbild und streckte ihm die Zunge heraus. Wie meistens war sie ungeschminkt. Jeder Verschönerungsversuch war bisher kläglich gescheitert. Gleich, ob sie Lippenstift oder Mascara auftrug. Sie sah irgendwie immer angemalt aus. Sonja meinte, das läge daran, dass es keinen Sinn machte, Avas ohnehin schon dichte Wimper und die vollen Lippen noch mehr zu betonen. Ava seufzte. Warum befasste sich überhaupt mit solchen Oberflächlichkeiten? Dieser Schmus war nicht einmal die paar Minuten wert, die sie gerade vor dem Spiegel verbrachte. Sie deponierte die Kaffeetasse auf dem Schreibtisch, entledigte sich ihrer Jeans und schlüpfte in ihre übergroße Jogginghose.  Dann lümmelte sich mit dem Stundenplan in der Hand in ihren sagenhaft bequemen Omasessel und riskierte endlich einen genaueren Blick auf ihre Kursübersicht. So, wie es aussah, war ihr nicht einmal eine kleine Verschnaufpause von der Kellerschen Aura vergönnt. Der Deutsch Leistungskurs fand direkt im Anschluss an Englisch statt. Ava musste sich dringend eine Strategie im Hinblick auf ihr Verhalten gegenüber Keller überlegen. Schließlich konnte sie nicht weiterhin wie ein kopfloses Huhn kurz vorm Herzinfarkt durch die Gegend rumpeln. Sie musste diese Schwärmerei oder was auch immer es war, das sie seit heute Morgen non stop auf eine emotionale Achterbahn schickte, im Keim ersticken. Doch wie sollte sie das anstellen, wenn sie der Ursache für ihr Gefühlsdurcheinander nahezu jeden Tag über den Weg lief?

***

Als Ava am nächsten Morgen Tag vor die Tür trat, empfing sie eine graue und nasskalte Nebelsuppe. Soviel zum goldenen Herbst. Die Feuchtigkeit legte sich unangenehm auf ihr Haar und ihre Finger fühlten sich jetzt schon klamm an. Am liebsten wäre sie direkt wieder zurück in ihr Bett gekrochen. Statt dessen zog sie sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf und die Ärmelenden, die unter dem Mantel hervorlugten, über die Finger. Wusste der Geier, wo ihre Handschuhe schon wieder abgeblieben waren. Widerwillig schwang sie sich aufs Rad. Eine Spazierfahrt würde das heute nicht werden. Aber sich statt dessen zwischen all die Schnupfnasen im miefigen Zug quetschen? Nein, darauf konnte sie getrost verzichten. Ralf hatte heute erst zur dritten Stunde Unterricht. Er war einer der wenigen Menschen, dessen Gesellschaft sie fast immer dem Alleinsein vorziehen würde. Daher warf sie im Vorbeifahren einen kleinen, wehmütigen Blick in die Schillerstraße.
Sie kämpfte sich gerade den Hügel nach der Unterführung hinauf, als ein kleiner, roter Peugeot an ihr vorbeibrauste. Die Sicht war mehr als beschissen. Daher konnte sie nicht erkennen, wer in dem Auto saß. Doch scheinbar war sie binnen eines Tages schon total konditioniert auf blonde Kerle und rote Autos. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Und das nicht wegen der Anstrengung. Furchtbar. ›Ava, du bist ja noch bekloppter, als du dachtest‹, schalt sie sich selbst. ›Reiß dich endlich zusammen, verdammt nochmal.‹ Leider war es ihr gestern nicht mehr gelungen, einen adäquaten Schlachtplan auszuhecken. Also war für`s Erste noch Improvisieren angesagt.

Als Ava an der Schule ankam, war sie völlig durchgefroren und sie hoffte sehr, dass es im Laufe des Tages noch aufklarte. Bibbernd ließ sie ihr Fahrradschloss zuschnappen.
»Du bist ja richtig pünktlich heute«, rief ihr Sonja entgegen. Sie kam aus Richtung des Schülerparkplatzes angeschlendert. Die Freundin war ein paar Monate älter als sie und hatte sich für den frisch erworbenen Führerschein gleich mit einem eigenen Auto belohnt. Zwar war es fraglich, wie lange der klapprige Opel Kadett durchhalten würde, bevor er auseinanderbrach, aber immerhin hatte er es noch durch den TÜV geschafft.
»Ja, bei schlechtem Wetter laufe ich zu Hochform auf«, konterte Ava. »Ey, ich habe echt gedacht, dass ich unterwegs erfriere. Ich bin gerast wie eine Blöde.«
»Eher so, als sei der Teufel persönlich hinter dir her gewesen«, mischte sich eine männliche Stimme lachend ein.
»Guten Morgen, Herr Keller«, flötete Sonja. »Super, dass Sie ein wenig frischen Wind in diesen verstaubten Laden bringen.«
»Gleichfalls einen guten Morgen«, erwiderte er fröhlich und lupfte charmant einen imaginären Hut. »Hallo, Vermummte«, wandte er sich schmunzelnd an Ava.
»Bisher weiß ich echt nicht, was an diesem Morgen gut sein soll«, antwortete sie verdrießlich, während sie sich die Kapuze vom Kopf zog. Doch in ihrem Bauch schlugen die Flatterdinger schon wieder Kapriolen.
»Vielleicht kann das deine Laune ein wenig anheben«, erwiderte Keller und zauberte eine kleine Packung Dominosteine aus der Innentasche seiner Jacke. Beinahe feierlich überreichte er die Süßigkeiten der verdutzten Ava. »Das hast du gestern vergessen. Weißt du noch?«
»Danke«, murmelte Ava. »Das wäre aber nicht nötig gewesen.« Sonja starrte die beiden mit großen Augen an.
»Wir sind uns gestern beim Einkaufen begegnet«, klärte der Lehrer die Situation auf. »Und Ava hatte es so eilig, dass sie glatt ihr Nervenfutter vergessen hat.«
»Herr Keller, Ihr Typ wird verlangt!« Frau Seidel, die junge Referendarin für Latein und Geschichte, stand in der Flügeltür am Haupteingang. Täuschte sich Ava, oder überzog ein dezentes Rosa das porzellanfarbene Puppengesicht? Offensichtlich war sie echt nicht die Einzige, die seit Kellers Auftauchen verrückt spielte. Zugleich beruhigend und beschämend.
»Ich komme schon«, antworte der Lehrer. Mit federnden Schritten lief er die Treppe hoch und nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Sonja holte Luft und setzte offensichtlich dazu an, die jüngsten Ereignisse zu kommentieren. Doch Ava hob abwehrend die Hände.
»Bitte sag nichts«, flehte sie die Freundin an. »Ich weiß, du liebst Klatsch und Tratsch. Aber ich bin dazu gerade wirklich nicht in der Stimmung.«
»Mensch, Ava. Manchmal bist du echt eine Spielverderberin.« Enttäuscht wölbte Sonja ihre Lippen zum Schmollmund. Eine Masche, die bei Ava gar nicht zog. Dafür fehlte ihr das nötige Testosteron.
»Aber keine Sorge. Ich halte dicht.« Sonja lächelte verschwörerisch.
»Du tust ja gerade so, als hätten wir etwas Verbotenes gemacht«, entgegnete Ava unwirsch. »Er wohnt nur ein paar Straßen weiter und wir haben uns zufällig im Supermarkt getroffen. Ich war total groggy und wollte so schnell wie möglich nach Hause. Und da habe ich versehentlich die Dominosteine liegen gelassen, die er mir nun freundlicherweise mitgebracht hat. Ende der Geschichte.« Sonja schien wenig überzeugt von dieser sachlichen Abhandlung, doch sie ließ es zum Glück dabei bewenden.

***

Für Ava war die Englischstunde bei Siebert wie Wellnessurlaub. Er war mindestens sechzig, hatte die Ausstrahlung eines Regenwurms und kein großes Interesse an sozialer Interaktion. Der gute Mann machte keinen Hehl daraus, dass er die Tage bis zur Rente zählte. Für Ava ging das völlig in Ordnung. Entspannt lehnte sie sich zurück und ließ sich von Sieberts monotoner Stimme einlullen. Sie musste nur aufpassen, dass sie nicht versehentlich einschlief. Wobei ihm das wohl auch egal wäre. Als er mit den Formalien durch war, fehlten nur noch fünfzehn Minuten bis zum Ende der Stunde und bisher war noch kein einziges, englisches Wort gefallen.
»As homework I would like you to sum up this text in about five sentences.« Huch, was war das denn. Überrascht fragte Ava sich, ob Siebert Gedanken lesen konnte, oder warum er auf die letzten Meter doch noch die Sprache gewechselt hatte. Jeder von ihnen erhielt eine Kopie des Artikels, den sie analysieren und zusammenfassen sollten. Drei Spalten Kleingedrucktes. Das sollte zu schaffen sein. Als der Gong ertönte, hatte Siebert bereits seine Sachen zusammengepackt und war schon halb zur Tür draußen.
»Bis später«, verabschiedete Sonja sich ungewohnt einsilbig . Wahrscheinlich ärgerte sie sich noch immer über Avas Abfuhr vorhin. Doch bevor sie antworten konnte, war Sonja schon abgerauscht. Der Deutsch Leistungskurs musste den Raum nicht wechseln. Außer Ava blieben noch fünf weitere Schüler und Schülerinnen sitzen. Zu den meisten von ihnen hatte Ava nicht eben ein inniges Verhältnis. Aber zumindest war kein kompletter Vollpfosten unter ihnen. Ava schielte Richtung Tür. Sie hoffte inständig darauf, dass sich noch jemand in der Reihe vor ihr niederlassen würde. Mit den leeren Bänken vor sich fühlte sie sich irgendwie schutzlos. Auch wenn es sie sonst nicht im Entferntesten tangierte, wenn sie ganz vorne saß. Sie atmete auf, als zwei Mädchen, die sie nur vom Sehen kannte, die Lücke zwischen ihr und dem Lehrerpult schlossen. Offensichtlich waren die beiden befreundet, denn sie steckten beinahe ununterbrochen die Köpfe zusammen. Die riesigen Creolen, die an den Ohren der Brünetten baumelten, hatten eine nahezu hypnotische Wirkung auf Ava. Nur am Rande bekam sie mit, wie sich das Klassenzimmer langsam füllte.
»Hi! Ist der Platz neben dir noch frei?«, erkundigte sich eine zierliche Blondine mit Zahnspange.
»Klar«, erwiderte Ava und schob ihr Federmäppchen und den Collegeblock zur Seite.
»Ich bin Ava.« Sie streckte ihrer neuen Sitznachbarin die Hand entgegen und diese ergriff sie lächelnd.
»Und ich bin Mona.« Ihre grünen Augen blickten freundlich.
›Mit diesem Mädchen werde ich bestimmt gut auskommen‹, dachte Ava. ‚Wenigstens ein Lichtblick in dieser ganzen Misere.‹ Abgesehen von Sonja und Ralf pflegte Ava zu keinem ihrer Mitschüler einen engeren Kontakt. Mit dem Gros wechselte sie maximal ein ›Hallo‹ oder ›Tschüss‹. Wenn überhaupt. Aber irgendetwas sagte ihr, dass sie mit Mona vielleicht über dieses Level hinauskommen würde. Ein schrilles Kichern ließ beide synchron zusammenzucken. Entgeistert starrte Ava auf die zwei Gestalten, die da gerade herein stolzierten. Wenn sie gewusst hätte, dass Vicky und Regina auch den Deutsch LK besuchten, wäre ihre Wahl vielleicht doch auf einen anderen Kurs gefallen..
»Hey Ava, alter Bücherwurm! War ja klar, dass du auch hier bist.« Vicky bleckte ihre blendend weißen Zähne, die im Licht der Neonröhre bläulich schimmerten. »Ich weiß nicht, ob es dir schon jemand gezwitschert hat. Aber wir bekommen hier den heißesten Lehrer – nein, was sag ich – den heißesten Typen an dieser Schule serviert.« Die anwesenden Jungs, die eindeutig in der Unterzahl waren, murrten protestierend auf.
»Ihr aufgedonnerten Schicksen könnt uns sowieso gestohlen bleiben!« Das kam von Max, an dessen gestrige Comiczeichnungen Ava sich noch lebhaft erinnern konnte.
»Und wir stehen auf reifere Männer, du Bubi!« Regina streckte Max prompt die Zunge heraus und demonstrierte damit eindrucksvoll ihr geistiges Entwicklungsniveau. Na, vielleicht würde das doch noch ganz lustig werden, hier. Hatte etwas von Komödienstadl. Ava musste grinsen und auch die stille Mona schmunzelte.

»Guten Morgen, meine werten Herr- und Damschaften!« Jon Keller hatte den Raum betreten und Avas Pulsschlag legte augenblicklich einen Zahn zu. »Ich hasse es, zu schreien. Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ihre privaten Unterhaltungen auf später verschieben. Sie dürfen Ihr Redebedürfnis natürlich auch gerne mittels zahlreicher Wortmeldungen stillen. Sobald ich meinen Monolog beendet habe.« Achtlos pfefferte er seine Aktentasche auf das Pult. In Sekundenschnelle hatte sich der Geräuschpegel auf ein erträgliches Maß reduziert. Die Mädchen hingen verzückt an Kellers Lippen und die Jungen warteten mit skeptischen Mienen und verschränkten Armen ab, wie sich der neue Mann in diesem Hühnerhaufen schlagen würde. »Wie ich bereits feststellen konnte, funktioniert der Flurfunk an dieser Schule hervorragend. Daher werden die meisten von Ihnen schon wissen, wer ich bin.« Er nahm ein Stück Kreide zur Hand und schrieb in schwungvollen Lettern seinen Namen an die Tafel. »Ich nehme an, dass Sie alle lesen können. Sonst hätten Sie sich wohl kaum auf diesen Leistungskurs eingelassen.«
»Ja, aber wenn die Buchstaben eher an Hieroglyphen erinnern, wird das mit dem Entziffern trotzdem schwer.« Max war heute scheinbar in seinem Element. Ava lachte in sich hinein. Wo er recht hatte, hatte er recht.
»Sie wagen es tatsächlich, meine kunstvolle Handschrift in Frage zu stellen? Das kann nicht Ihr Ernst sein.« Keller setzte eine entsetzte Miene auf und klopfte sich die Kreide von den Händen. »In Ordnung. Ich werde mich bemühen, leserlicher zu schreiben. Ich möchte ja, dass meine Bemerkungen unter Ihren zukünftigen Sechsen bei Ihnen ankommen.« Er grinste und der ganze Kurs brach in schallendes Gelächter aus. Das Eis war gebrochen. Keller nahm neben seiner Tasche auf dem Pult Platz. Während er sich im Klassenzimmer umsah, ließ er locker die Beine baumeln und scherte sich einen feuchten Dreck darum, ob sich solch ein Gebaren für einen Lehrer ziemte oder nicht. Er schien jeden Schüler einer visuellen Leibesvisitation zu unterziehen. So eindringlich musterte er sie alle. Doch Ava streifte sein Blick diesmal nur kurz. Sie wusste nicht, ob sie darüber enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Sie entschied sich für Letzteres und versuchte, ihren davongaloppierenden Herzschlag wieder etwas einzubremsen.
»So, nachdem wir uns ein wenig beschnuppert haben, möchte ich Ihnen vorschlagen, dass ich Sie alle duze.« Er machte eine kurze Pause. »Umgekehrt gilt das natürlich nicht.« Erneutes Gelächter. »Sie haben selbstverständlich ein Recht darauf, mit Sie angesprochen zu werden. Aber mir kommt das bei Jugendlichen Ihres Alters echt schwer über die Lippen. Hat jemand etwas dagegen, wenn ich auf`s »Du« umsteige?« Er erntete zustimmendes Nicken von allen Seiten. Keiner schien ein Problem damit zu  haben.
»Ok, schön, dass wir das geklärt haben. Ich hoffe sehr, dass wir gut miteinander auskommen werden. Schließlich werden wir die nächsten zwei Jahre viel Zeit zusammen verbringen.« Ava merkte, wie das mulmige Gefühl in ihrer Magengrube wieder verstärkte. »Mein Ziel ist es, jeden Einzelnen von euch durch`s Abitur zu bringen. Ich liebe meinen Job. Ich fordere viel von mir und auch von euch.« Kurzzeitig war der Schalk in Kellers Augen verschwunden. Er blickte ernst und konzentriert in die Runde. » Der Kurs hier wird kein Spaziergang. Aber ihr werdet sehen: Es lohnt sich, wenn ihr euch reinhängt. Das verspreche ich euch!« An dem Mann war ein erstklassiger Motivationscoach verloren gegangen, dachte Ava. Und als Lehrer war er offenbar auch ein Glücksgriff. Wenn sie ihre schwärmerischen Anwandlungen in den Griff bekäme, könnte das hier richtig gut werden.
»Leider sind wir noch nicht ganz am Ende mit den Formalien. Mal sehen, ob es schon in der ersten Stunde ein paar Abtrünnige gibt.« Er kramte in seiner Tasche und holte ein Blatt Papier hervor. Wahrscheinlich die Anwesenheitsliste.
»Sabine Brettschneider fehlt«, meldete sich Vicky zu Wort. »Sie ist krank.«
»Na, hoffentlich ist es etwas Ernstes«, erwiderte Keller prompt und hatte zum wiederholten Male die Lacher auf seiner Seite. Doch manch einer wirkte etwas verunsichert von seiner radikalen Aussage. »Merkt euch: Hier wird nicht geschwänzt.« Für den Bruchteil einer Sekunde blieb sein mahnender Blick an Ava hängen. »Sabine wünsche ich natürlich unbekannterweise gute Besserung.«
»Ich werde es ausrichten«, krächzte Vicky. Keine Spur mehr von ihrer üblichen Coolness.
»Sonst noch irgendwelche spontanen Ausfälle?«, fragte Keller und studierte seine Liste. Schweigen. »Ok, dann können wir ja loslegen. Susanne Altmann?«
»Anwesend.«
»Stefan Braun?«
»Ja, hier.«
Ava war die Vorletzte auf der Kursliste. Als Keller ihren Namen nannte, blickte er nicht einmal auf. Gut, er musste sich nicht extra vergewissern, dass sie da war. Schließlich hatte er in ihrem Fall schon ein Gesicht zum Namen. Dennoch verspürte Ava einen kleinen Stich in ihrem verrückten Herzen.

Sobald der Bürokratie Genüge getan war, nahm Keller ein gelbes Reclam-Heftchen zur Hand und hielt es anpreisend in die Höhe. Prompt ging ein gequältes Stöhnen durch die Reihen. Keller hatte mit dieser Reaktion sicher gerechnet. Er ignorierte sie einfach.
»Kabale und Liebe von Friedrich Schiller. Ein Werk aus der Zeit des Sturms und Drangs. Einer meiner liebsten literarischen Epochen.« Keller legte das Büchlein zur Seite und sprang vom Pult. Seine Augen leuchteten. Was den Schülern an Enthusiasmus fehlte, machte er hundertmal wett. »Wem ›Romeo und Julia‹ gefallen hat, der wird auch dieses Drama mögen. Ganz großes Gefühlskino. Und keine allzu schwere Kost für den Anfang.« Die männlichen Schüler wirkten wenig überzeugt. Die Mädchen dagegen übten sich in koketten Augenaufschlägen. Ava bezweifelte, dass die meisten von ihnen überhaupt zugehört hatten. »Doch selbst wenn es euch jetzt würgt. Hilft alles nichts. An dieser Pflichtlektüre kommt ihr nicht vorbei. Wann sehen wir uns wieder?«, fragte er und angelte nach dem Stundenplan.
»Doppelstunde Freitag Früh, steht hier«, antwortete das Mädchen mit den Creolen eifrig. Sibylle hieß sie, wenn Ava sich recht erinnerte.
»Nein,  Freitag fällt ausnahmsweise aus wegen einer Lehrerkonferenz. Habt Ihr ein Dussel. So wie es aussieht, kann ich euch erst wieder am Montag quälen.« Zustimmendes Gegröle aus den männerlastigen Reihen. »Halt, freut euch nicht zu früh! Vier Tage sind genug Zeit, um im Buchladen eures Vertrauens dieses Heftchen zu besorgen und die allererste Szene aus Akt 1 zu lesen. Und macht euch bitte ein paar Gedanken zu dem Begriff Sturm und Drang. Ich bin gespannt auf eure Ideen.«
Kaum hatte er ausgesprochen, ertönte auch schon der Gong, der diesmal nicht nur das Ende der Stunde, sondern auch die große Pause einläutete. Dementsprechend eilig hatten es die Schüler, aus dem Klassenzimmer zu kommen. Ava holte rasch ihr  Schinkenbrötchen aus der Tasche. Ihr stand nicht der Sinn nach einem weiteren Small Talk unter vier Augen. Doch ihre Sorge war unbegründet. Um Keller scharrten sich mindestens drei Mädchen und ihrem aufgeregten Geschnattere nach zu urteilen, würden sie ihn auch nicht so schnell aus ihren Fängen lassen. Ava kam das gerade recht. Hastig drückte sie sich an der kleinen Versammlung vorbei. Mit langen Schritten eilte sie die Treppen hinunter. Als sie die Durchgangstür zum Pausenhof öffnete, atmete sie tief durch. Es war noch immer ungemütlich nass und kalt draußen, doch die frische Luft kühlte ihr erhitztes Gemüt.

Ava suchte sich ein ruhiges Plätzchen unter den Lindenbäumen. Ihr war gerade nicht nach Konversation zumute. Herzhaft biss sie in ihre Wurstsemmel und ließ ihren Blick über hunderte von Jugendlichen schweifen. Die Schüler standen größtenteils in Grüppchen beieinander. Zwischen den Köpfen schwebten Wolken aus kondensierter Atemluft. Es hatte maximal ein paar Grad über Null. Ava zog sich mit der freien Hand die Kapuze wieder über den Kopf.   Ein paar Fünftklässler tobten um sie herum. Sie jauchzten und ihre Wangen waren gerötet. Plötzlich musste Ava an Paul denken. An sein freundliches Lausbubengesicht, seine vor Unternehmungslust funkelnden Äuglein und die eine widerspenstige Locke, die ihm ständig in die Stirn fiel. Ava schluckte und merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte nicht nur die schönen Erinnerungen und ihre Liebe, sondern auch den Schmerz konserviert. Die vielen Jahre, die seit dem Unfall verstrichen waren, hatten ihn nicht mildern können. Es war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt und auch nicht der richtige Ort, um sich der Trauer und einem Heulkrampf hinzugeben. So gut es ging, versuchte Ava daher, den Gedanken an den toten Bruder von sich zu schieben.

Mit leerem Blick starrte sie auf das fröhliche Treiben vor ihr. Gedämpft drangen Lachen und unverständliche Gesprächsfetzen an ihr Ohr. Sie fühlte sich, als befinde sie sich in einer Paralleldimension. Abgetrennt von all diesen unbeschwerten und hoffnungsfrohen, jungen Menschen. Sie passte nicht hinein in diese bunte Welt. Mit einem Mal zog ein roter Farbklecks, der langsam durch die Menge wanderte, ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es handelte sich um einen leuchtenden Wollschal, der in provokantem Kontrast zu der schwarzen Lederjacke des Trägers stand. Nun wurde Ava auch des blonden Haarschopfs gewahr, der über diesem gewagten Arrangement thronte. Zwei blitzblaue Augen musterten Ava ebenso unverwandt wie sie den Besitzer dieser funkelnden Sterne. Auf Kellers Stirn hatte sich wieder die steile Falte gebildet, die Ava schon gestern im Supermarkt bemerkt hatte. Scheinbar hatte er Pausenaufsicht. Mit den Händen in den Jackentaschen und langen Schritten steuerte er direkt auf sie zu. Ava rutschte das Herz in die Hose. Sie sah sich momentan nicht in der Lage, auch nur einen vernünftigen Satz zu formulieren. Außerdem empfand sie sich gerade nicht als tageslichttauglich. Ava war alles andere als eitel. Aber sie hatte den starken Verdacht, dass sie mit ihren rotgeränderten Augen eher einem verheulten Albinokaninchen glich als einem menschlichen Wesen.

„Hallo Ava,“ ertönte in diesem Moment eine Stimme hinter. Es war Ralf, für den der heutige Schultag erst jetzt begann. „Ich hätte dich fast nicht erkannt in deinem Aufzug.“ Neckisch zog er an ihrer Kapuze. „Beschattest du irgendwen?“
„Nein, mir ist nur saukalt. Und außerdem habe ich eigentlich gerade keine Lust auf Gesellschaft.“
„Charmant wie eh und je“, lachte er, während seine dunklen Augen sie prüfend musterten. „Alles ok mit dir?“
„Ja, nur die üblichen Verdächtigen.“ Ralf nickte verständnisvoll. Er wusste genau, wovon Ava sprach. Keller hatte sein Tempo gedrosselt, als Avas Freund auf der Bildfläche erschienen war. Scheinbar unschlüssig verharrte er einen Moment, bevor er dann doch weiter auf sie zu schlenderte. Ralf hatte ihn nun auch entdeckt und rief ihm zu:
„Sie müssen der neue Lehrer sein, wegen dem die ganzen Mädels so aus dem Häuschen sind. Warten Sie, ich habs gleich … Herr Keller, oder?“
Der Lehrer lachte und Ava spürte, wie sie ihre Gesichtsfarbe wechselte. Ralfs Taktgefühl ließ manchmal echt zu wünschen übrig.
„Ertappt.“ Keller setzte eine schuldbewusste Miene auf. “Naja, neue Gesichter sind zunächst immer ultraspannend. Aber wenn die Damen erst festgestellt haben, dass ich genauso eine fade Spaßbremse bin wie die anderen Pauker, wird das Interesse sicher bald nachlassen.“ Nun war es an Ralf, der grinste. Keller stand nun direkt vor ihnen. Zum ersten Mal fiel Ava auf, wie groß er war. Ralf maß schon über ein Meter Achtzig. Doch der Lehrer überragte ihn noch um einen halben Kopf.
„Magst du mir deinen Freund nicht vorstellen?“, wandte er sich an Ava.
„Das ist Ralf“, antwortete Ava. »Und keine Sorge. Er wird Arzt, nicht Diplomat.« Über diese Bemerkung mussten beide Männer schmunzeln.
„Wir kennen uns seit der Grundschule«, ergänzte Ralf im Plauderton. „Ava war schon immer etwas speziell.“ Sie rammte ihm unsanft den Ellenbogen in die Seite.
„Au! Du solltest ins Boxtraining gehen statt ins Ballett.“
„Wie sagt man so schön? Was sich liebt, das neckt sich.“ Keller lächelte, doch sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. Es war nur logisch, dass er annahm, Ava und Ralf seien ein Paar. Ava ließ ihn in dem Glauben. Sie fing Ralfs überraschten Blick auf. Doch er sagte nichts.
»Ich lasse euch Turteltäubchen auch gleich in Ruhe.« Keller räusperte sich. Die Falte auf seiner Stirn war noch nicht verschwunden. Sie hatte sich vielmehr noch vertieft. »Ich wollte dich nur etwas fragen, Ava.«
»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte sie, doch das war glatt gelogen. Fasziniert beobachtete sie, wie der Atem aus seinem Mund entwich und an der Luft kondensierte. Allein der sinnliche Schwung seiner Lippen ließ ihr Herz hilflos stolpern. Was war nur los mit ihr.
»Inzwischen habe ich mir einen Überblick zu den bisherigen Leistungen meiner Schüler verschafft«, fuhr Keller fort und strich sich über sein Blondhaar. »Und ich habe festgestellt, dass du in nahezu allen Fächern hervorragende Noten hast. In Deutsch läufst du offenbar völlig außer Konkurrenz. Was mich natürlich freut.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Nun zu meiner Bitte: In der neunten Klasse habe ich im Deutschunterricht ein Sorgenkind. Ohne Nachhilfe wird sie voraussichtlich eine Ehrenrunde drehen müssen. Die familiären Umstände sind etwas schwierig. Wenn sie durchfällt, ist das mit Sicherheit ihr Aus am Gymnasium. Kannst du dir vorstellen, dem Mädchen einmal pro Woche Nachhilfe geben? Zwecks der Bezahlung müssen wir uns etwas überlegen. Die Familie kann es sich nicht leisten. Und ich würde gerne einspringen und dir einen angemessenen Ausgleich zukommen lassen, aber das darf ich nicht.«
»Sie wissen schon, wie das klingt, oder?«, mischte sich Ralf prustend ein.
»Nein, wie denn?«, entgegnete Keller scharf. In seinen Augen glitzerte es gefährlich. Ralf verstummte sofort.
»Die Nachhilfe wäre also erstmal unentgeltlich. Aber ich werde nochmal mit der Schulleitung reden. Das kriegen wir schon gedeichselt.«
»Ich weiß nicht, ob ich so eine gute Nachhilfelehrerin abgebe«, antworte Ava zögernd. Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Außerdem jobbe ich schon Mittwoch und Freitag in der Bücherei.« ›Und ich bin froh, wenn ich nicht mehr mit anderen Menschen zu tun habe, als unbedingt notwendig‹, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Ok, das mit der Bücherei wusste ich nicht. Zusammen mit der Abivorbereitung ist das natürlich schon ein straffes Programm«, lenkte Keller ein. Doch er ließ nicht locker. »Überleg es dir einfach. Du würdest ihr und mir einen großen Gefallen erweisen. Vor den Nachhilfestunden würde ich mich kurz mit dir wegen der jeweiligen Themenschwerpunkte beratschlagen. Du musst da nicht selbst ein Konzept ausarbeiten. Aufgaben und Texte könnte ich dir zur Verfügung stellen.«
Obwohl der Lehrer sein Anliegen überaus sachlich vorgetragen hatte, nahm Avas Puls jetzt erst recht Fahrt auf. Die Aussicht, noch häufiger mit ihm zu tun zu haben, löste gemischte Gefühle in ihr aus. Doch es verärgerte sie, dass er so siegessicher drein blickte. Sie unternahm noch einen weiteren Abwehrversuch:
»Das klingt schon alles reichlich umständlich. Nix für ungut. Warum übernehmen Sie dann nicht gleich selbst die Nachhilfe?«
»Das wäre nicht klug«, antwortete er nur. Ava hätte diese kryptische Aussage gerne hinterfragt, aber Kellers Gesichtsausdruck hielt sie davon ab. Sie wurde einfach nicht schlau aus dem Mann. Und es erstaunte sie, mit welcher Leichtigkeit er von dem lockeren, fast flirtähnlichen Tonfall, den er gestern an den Tag gelegt hatte, auf diese bierernste Nüchternheit umswitchen konnte. Nun wirkte er tatsächlich so alt, wie er war. Vielleicht war ihr Gehirn aber gestern auch einfach so vernebelt gewesen, dass sie sich das Kribbeln zwischen ihnen nur eingebildet hatte. Es reizte sie regelrecht, ihn aus der Reserve zu locken. Doch sie biss sich auf die Lippen. Und Ralf blickte auch schon ziemlich argwöhnisch drein. Es war doch eigentlich sehr begrüßenswert, dass Keller ihr keinen Anlass gab, sich in diese alberne Schwärmerei noch weiter reinzusteigern. Lieber jetzt die Notbremse ziehen als später kreuzunglücklich werden. Sie seufzte laut auf.
»Es geht nur um Nachhilfe, Ava«, schmunzelte Keller. »Nicht um das jüngste Gericht. Gib mir einfach am Montag Bescheid, wie du dich entschieden hast.«
Im Fortgehen drehte er sich noch einmal um und rief ihr über die Schulter zu: »Oder, wenn wir uns das nächste Mal im Supermarkt über den Weg laufen.« Zwinkerte er ihr etwa zu? Doch da hatte er den Kopf schon wieder abgewandt und steuerte auf eine Gruppe von jüngeren Schülern zu, die ihn winkend zu sich baten.
»Pass bloß auf, Ava!« Ralfs dunkelbraune Augen blickten besorgt.
»Wie meinst du das?« Sie gab sich unbeteiligt, doch in ihren Ohren rauschte das Blut. Und Ralf kannte sie schon zu lange. Er ließ sich nicht täuschen.
»Das weißt du genau.« Er atmete tief ein. »Ich mein’s dir nur gut. Du hast schon genug Scheiße an den Hacken kleben.«
»Ja, du hast recht. Mach dir keine Sorgen.« Sie ergriff seine Hand und drückte sie leicht. »Ich bin ein großes Mädchen.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang«, seufzte er. Er schien alles andere als überzeugt zu sein von ihren pathetischen Worten.

***
Nach der Schule radelte Ava auf direktem Wege zur städtischen Bücherei. Ihre Schicht begann zwar erst um vierzehn Uhr, aber dann hatte sie noch ein wenig Zeit, um selbst ein bisschen in den Regalen zu stöbern. Außerdem lechzte sie nach einer heißen Tasse Kaffee mit viel Milch und Zucker. Die Bibliothek verfügte über ein kleines Café, in dem Ava oft die Hälfte ihres sauer verdienten Taschengeldes los wurde, noch ehe sie ihre Arbeitsstelle wieder verließ. Doch der aromatische Kaffee und die behagliche Atmosphäre waren es wert. Natürlich saßen dort auch andere Menschen. Doch sie unterhielten sich nicht. Sie lasen. Ebenso wie Ava. Die Bücherei und ihr kleines Café waren für sie schützende Inseln im stürmischen Alltagsmeer. So heimelig das Ambiente, so knallhart die Lektüre. Paradoxerweise waren es insbesondere nervenzerreißende Thriller und Horrorgeschichten, die Ava ein Maximum an Entspannung bescherten.

Das letzte Stück der Strecke führte durch die an diesem ungemütlichen Tag kaum besuchte Parkanlage. Ava nutzte die Gelegenheit und schmiss ihren Discman an. Bis zum Eingang der Bibliothek würde sie Bob Dylans »Times, they are a-changin« viermal anhören können. Die Ballade war eines der Lieder, die sie direkt im Herzen erreichten. Balsam für ihre Seele. Stoff für ihre Träume. Was derzeit im Radio rauf- und runtergenudelt wurde und als Chartstürmer angepriesen wurde, entsprach so gar nicht ihrem Musikgeschmack und ließ sie innerlich kalt. Zum Glück gab es CDs. Am besten wäre es natürlich, wenn sie selbst Gitarre spielen könnte, dachte sie, während sie den Song mitsummte. Wenn nur das Instrument und der Unterricht nicht so verdammt teuer wären. Doch sie kratzte fast jede müde Mark von ihrem Verdienst zusammen, um sich diesen langgehegten Wunsch bald erfüllen zu können.

»Wer fährt so schnell durch Nässe und Wind?«, ertönte ein paar Meter vor ihr eine männliche Stimme. »Na, du hübsches Kind?« Es war ein Mann mittleren Alters, der dort auf der Parkbank saß und dummdreist Goethes Erlkönig umdichtete. Allein schon deshalb war er Ava unsympathisch. Außerdem hatte sein Blick etwas von einem Raubtier auf der Lauer. Als Ava näher kam, stand er auf und stellte sich ihr einfach in den Weg. Avas Herz raste. Was hatte der Mann vor? Wollte er sich an ihr vergreifen? Ava verfluchte sich dafür, dass sie arglos in die verlassen Parkanlage gefahren und sich sogar noch auf die Einsamkeit gefreut hatte. Wie dämlich war sie eigentlich? Fieberhaft wägte sie ihre Optionen ab. Der Weg war schmal. Rechts war das Wasser.Ein Seitenarm der Isar, der sich durch den Park schlängelte. Und linker Hand erhob sich ein Hügel, den sie unmöglich mit dem Rad bewältigen konnte. Es blieb auch keine Zeit mehr, um abzubremsen und umzudrehen. Er wäre noch bei ihr, bevor sie es geschafft hatte, wieder anzufahren. Es gab nur eine Möglichkeit. Augen zu und durch. Sie stellte sich auf und trat in die Pedale, so fest sie konnte. Und hielt direkt auf den Widerling zu. Sein Grinsen wich einem überraschten Gesichtsausdruck, doch er sprang nicht zur Seite. Nun war sie auf seiner Höhe. Sie löste das ihm zugewandte Bein von den Pedalen. Und in dem Moment, als er die Arme nach ihr ausstreckte, trat sie ihm mit voller Wucht in den Unterleib. Er schrie gequält auf und taumelte von ihr weg.
»Du blödes Miststück«, stöhnte er.
»Du perverses Arschloch«, zischte sie zurück. Seine lyrischen Ambitionen hatte sie wohl im Keim erstickt. Stattdessen erging er sich in Hasstiraden, von denen Ava aber nicht einmal die Hälfte verstand. Sie raste weiter und warf keinen einzigen Blick mehr zurück. Doch sie wagte es erst, aufzuatmen und das Tempo zur drosseln, als sie die kleine Brücke überquert hatte, die direkt auf den Parkplatz der Bücherei führte. Mit Puddingknien stieg sie vom Rad. Um es abzuschließen, brauchte sie mehrere Versuche. Ihre Finger zitterten zu stark.
»Alles ok mit dir, Ava? Du bist weißer als die Wand hinter mir.« Philomena, welche die Schicht vor Ava hatte, musterte sie besorgt.
»Ja, Philli. Mir hat nur so ein behinderter Penner im Park aufgelauert. Doch zum Glück habe ich ihn abhängen können.«
»Oh, mein Gott.« Die Kollegin hielt sich entsetzt eine Hand vor den Mund. »Willst du nicht Anzeige erstatten, oder sowas?«
»Wieso sollte ich? Es ist ja nichts passiert. Ich brauche jetzt erstmal einen starken Kaffee.«

Während sie langsam zur Kaffeebar hinüberging, dachte sie darüber nach, dass ihr das Radfahren in letzter Zeit kein Glück mehr brachte. Gestern der Beinahe-Crash mit ihrem Deutschlehrer und heute das Zusammentreffen mit diesem miesen, notgeilen Typen. Sie schüttelte sich.
»Was kann ich für dich tun, Süße?« Hinter dem Tresen stand Sam. Die wilden Tattoes auf seinen durchtrainierten Armen standen in krassem Gegensatz zu den feingeschnittenen Gesichtszügen und den dichtbewimperten, schwarzen Augen. Der Dreitagebart sollte sein Gesicht wohl männlicher erscheinen lassen, doch er verstärkte  den Eindruck von androgyner Schönheit nur noch. So manches Mädchen hatte wohl schon nachts in seine Kissen geweint, als es erfahren hatte, dass Sam nicht auf Frauen stand.
»Einen Milchkaffee bitte. Und irgendwas zu mampfen. Was, ist egal. Hauptsache, viel Zucker.«
Sam lachte. »Den Death by Chocolate kann ich empfehlen. Optimal für Schokoholics.«
»Klingt vielversprechend. Einen schöneren Tod gibt es wohl kaum«, antworte Ava und schaffte es tatsächlich, schon wieder ein wenig zu schmunzeln. Während Sam den Kaffee vorbereitete, zog Ava ein Boulevardmagazin aus dem Zeitungsständer. Für anspruchsvolle Kost fehlte ihr gerade die nötige Konzentration. Ihre Gedanken hüpften noch Immer wie aufgescheuchte Hühner wild durcheinander.
»Wohl bekomm`s«, sagte Sam und Ava balancierte den Milchkaffee mit der überdimensionalen Schaumkrone und die fast schwarze Schokotorte zu dem kleinen Tisch, auf dem sie auch ihre Zeitschrift drapiert hatte. Der Milchschaum knisterte auf ihrer Zunge und der intensive Kakaogeschmack des Kuchens katapultierte sie direkt in den Schokoladenhimmel. Sie spürte, wie die Anspannung allmählich von ihr abfiel. Sie nahm noch zwei große Bissen und schlug dann das einschlägige Magazin auf. Promiklatsch- und Tratsch überblätterte sie.  An dem Dossier »Was Liebe wirklich ist«, blieben ihre Augen kurz hängen, doch sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Während sie an ihrem Kaffee nippte, blickte sie nach draußen. Inzwischen hatte sich das leichte Nieseln in strömenden Regen verwandelt. Dicke Tropfen klatschten an die Fensterscheiben. Ava graute sich schon davor, später nach Hause radeln zu müssen. Zumal es um sechs Uhr abends auch ohne Regenwolken schon langsam dunkel wurde. Vielleicht sollte sie heute doch die S-Bahn nehmen. Bei dem Gedanken an den Typen im Park wurde ihr noch immer flau im Magen. Sie versuchte, sich auf das Magazin zu konzentrieren. Wäre doch schade, wenn ihr der köstliche Kuchen wieder hochkäme.

Wahrscheinlich trug das schlechte Wetter auch seinen Teil dazu bei, dass heute kaum Leute ihren Weg in die Bücherei fanden. Ava sortierte die Kartei mit den Leserkartentaschen und verkniff sich ein Gähnen. Normalerweise würde sie sich jetzt einfach einen dicken Schmöker schnappen und die paar Stunden bis zum Feierabend mit Lesen verbringen. Das war mit ein Grund, warum sie diesen Job so liebte. Wenn nichts los war, wurde sie quasi für ihr liebstes Hobby bezahlt. Die Leiter der Bücherei hatten nichts dagegen einzuwenden. Nein, sie begrüßten es sogar, wenn das Personal bücheraffin war. Doch heute fehlte ihr einfach die notwendige Muse, um sich in eine Geschichte zu vertiefen. Nicht einmal das Dossier hatte sie zu Ende gelesen.

»Ich möchte gerne dieses Buch ausleihen, bitte.« Vor ihr stand ein circa zwölfjähriges Mädchen mit dunkelblonden Zöpfen und Sommersprossen.
»Oh, die ›Rota Zora und ihre Bande‹.« Ava lächelt. »Das ist ein wunderbares Buch. Ich habe es geliebt und sogar zweimal gelesen.« Ihre eigene Ausgabe hatte sie aus einer alten Bücherkiste ihres Vaters. Schon damals fehlte der Schutzumschlag. Die Seiten waren vergilbt und das Papier roch muffig. Doch der Titel, der in kleinen Lettern auf dem Buchrücken stand, hatte Ava sofort in den Bann gezogen. Trotzdem konnte sie nicht im Ansatz erahnen, welch wunderbare Welt sich zwischen den zwei unscheinbaren dunkelblauen Buchdeckeln verbarg. Es war eines der Bücher ihrer Kindheit, die einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen sollten. Und der dunkelhaarige, schwarzäugige Branko mit der braungebrannten Haut war die erste Romanfigur, in die sie sich verliebte. Leider hatte Avas erster Freund mit dem Buchhelden nur das Aussehen und nicht den Charakter gemein.
»Ist es spannend?«, fragte das Mädchen. Sie streckte Ava ihren Büchereiausweis entgegen und diese notierte die Nummer auf der Buchkarte.
»Ohja! Es ist ein Buch zum Mitfiebern, zum Mitlachen und auch zum Mitweinen.«
»Das klingt toll!«

Am Rande ihres Gesichtsfeldes nahm Ava eine Bewegung wahr. Ein weiterer Besucher hatte die Bücherei betreten. Schlank, dunkle Jacke, blonder Wuschelkopf. Avas Herz machte einen Satz. Beinahe hätte sie den Stempel mit dem Ausleihdatum in das falsche Feld gesetzt.
»Hallo!«, grüßte der Mann freundlich. Er war es nicht. Die markanten Gesichtszüge ähnelten ihrem neuen Lehrer, doch dessen Charisma konnte der Fremde nicht das Wasser reichen. Avas heftige Reaktion erschreckte sie selbst. War es bereits so schlimm um sie bestellt? Dass sie in allen blonden Männern nur noch Kellerdoppelgänger sah? Eigentlich war sie doch schon aus dem Alter für solche pubertären Schulmädchenschwärmereien heraus. In ein paar Tagen wurde sie volljährig. ›Jetzt reiß dich mal zusammen, du hohle Nuss‹, schalt sie sich selbst, während sie dem Mädchen mit den Zöpfen ihre Karte und das Buch zurückgab.
»Viel Spaß!«, wünschte sie dem Teenager.
»Vielen Dank!« Das Buch verschwand in einer beigen Stofftasche.
»Und verlieb dich bloß nicht in Branko!« Ava hob spielerisch drohend den Zeigefinger. Das Mädchen lachte und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Ava hatte erreicht, was sie wollte. Die Kleine konnte es gar nicht mehr abwarten, mit dem Lesen zu beginnen. Bücher waren schon etwas Schönes. Ein wenig Magie im bisweilen tristen Alltag. In dem Leinenbeutel des Mädchens befand sich in kompakter Form eine völlig andere Welt. Und ein wenig von dem Zauber übertrug sich auch auf Ava. Beschwingt von dieser netten Begebenheit und mit einem kleinen Summen auf den Lippen griff sie nach dem Rollwagen, in dem sich schon all jene Bücher stapelten, die darauf warteten, wieder an ihren Platz zurückgebracht zu werden.

2 Kommentare

  1. Malmuse

    Hallo Mary,

    also die Idee mit dem schokoladig bittersüßem Cover-Bild passt gut. …das macht neugierig…danke für den Textlink…wenn ich am Wochenende mehr Zeit finde stürze ich mich auf die Love-Story.
    Wenn in Deinem Blog unterschiedliche Themen vom Kinderalltag über Blogroman – Schreibprojekte behandelt, werden finde ich ok. So habe ich als Leserin auch ein Einblicke vom Alltag und den Herausforderungen einer Autorin und Mutter. Auch wenn ich nie schaffe ich es alles zu lesen und nicht immer jedes Thema gleich interessant ist verfolge ich Deine Seiten doch gerne.
    Schöne Feiertage bis später
    lg
    Malmuse

    • Federfarbenfee

      Liebe Malmuse,

      schön, dass dir mein Cover gefällt! 🙂 Gerade von dir, deren Bilder ich sowohl hinsichtlich der Motive als auch der Farbkompositionen wundervoll finde, ist das ein ganz besonderes Kompliment! Es freut mich natürlich, dass du am Wochenende in meine Geschichte hineinlesen willst! Bin schon gespannt, was du dazu sagst! Am besten ganz unvoreingenommen rangehen, aber das tust du ohnehin, so wie ich dich (ein)schätze. 🙂 Ja, den Themenmix auf dem Blog werde ich wahrscheinlich für`s Erste beibehalten. Das bin halt einfach ich. Obwohl ich dadurch schon erst recht zum Verzetteln neige.
      Ganz herzliche Grüße und auch dir eine schöne Weihnachtszeit, du Liebe!
      Mary 🙂

Schreibe eine Antwort zu MalmuseAntwort abbrechen

© 2024 Federfarbenfee

Theme von Anders NorénHoch ↑

%d Bloggern gefällt das:

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen