Im Anfang das Ende

»Seit wann weißt Du es?«

Ihre Stimme bebte und sie spürte, wie der Schmerz ihr Herz bereits flutete und jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer augenblicklich ertränkte.

Er wirkte unversehrt. Nichts an Ranieris attraktiver Erscheinung deutete auf das Monster hin, das sich durch seinen Kopf fraß. Doch die Hand, mit der er sich zerstreut über das dichte Blondhaar strich, zitterte.

»Die Diagnose steht seit einer Woche.«

Beinahe zwanzig Jahre ist jenes Gespräch nun her. Und doch hat Priska das Gefühl, es habe erst gestern stattgefunden. Sie kann sich an jedes einzelne Wort erinnern.

Es war ein sonniger Maientag, der sich mit verheißungsvollen Frühlingsdüften und dem bunten, pulsierenden Leben selbst tarnte, dabei jedoch in Wirklichkeit den Tod mit sich trug. Das Grauen erscheint noch unerträglicher, wenn es in schöner Gestalt daherkommt. Am Himmel tummelten sich luftige Wattewolken, die Bienen summten, die Kinder machten Hüpfspiele auf dem warmen Asphalt, die Amseln sangen ihre fröhlichsten Melodien, die kleinen Schaumkronen auf dem Eisack glitzerten.

Und Ranieri würde sterben.

»Sie nennen es Schmetterlingsgliom. Ein solch schöner Name für etwas derart Furchtbares. Kannst Du Dir das vorstellen?« Ranieris Kehle entwich ein gequältes Lachen. Seine Augen folgten den Zitronenfaltern und Pfauenaugen, die ringsum von Blüte zu Blüte tanzten und sich am Nektar labten. Priska sehnte sich danach, ihn zu umarmen und ihre Liebe wie einen Schleier über ihn zu werfen, damit er vor dem Tod verborgen bleiben möge. Doch Ranieris steife Körperhaltung ließ sie davon Abstand nehmen. Stattdessen berührte sie sacht die Finger seiner linken Hand, die sich in den Fugen des aus losen Steinen errichteten Mauerwerks verkrallt hatten, auf dem sie saßen. Seine Haut war warm.

Priska schluckte die Tränen hinunter, die mit aller Macht in ihre Augen drängten. All die Jahre hatte sie gehofft, dass sie eines Tages zusammenfänden. Nun, da es endlich so gekommen war, hatte sie für ein paar kostbare Wochen geglaubt, dass dies erst der Anfang vom Glück wäre. Tatsächlich aber war es das Ende. Sie verurteilte sich für ihre egoistischen Gefühlsregungen, doch der Gedanke, ihn zu verlieren, nahm ihr die Luft zum Atmen.

»Können die Ärzte denn gar nichts machen?« Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass es keine Möglichkeit geben sollte, ihn zu retten. Sein Lebenslicht leuchtete noch viel zu kräftig und hell, als dass es sich so leicht ausblasen ließe.

Ranieris Miene wirkte undurchdringlich. Augenscheinlich beobachtete er noch immer das rege Treiben der Insekten auf der Wiese vor ihnen, doch der starre Blick verriet, dass die innere Linse andere, weit weniger ästhetische Bilder in den Fokus rückte. Auf seiner Stirn hatte sich wieder die vertraute Falte gebildet.

»Sie möchten operieren. Und anschließend werden sie mir Bestrahlungen und Chemotherapie verordnen. Aber das alles verschafft mir höchstens etwas mehr Zeit. Sie können den Tumor nicht vollständig entfernen.«

»Wie viel Zeit?« Priska konnte nur noch flüstern.

Ranieri hatte sie trotzdem gehört. »Insgesamt vielleicht ein Jahr. Eventuell auch ein paar Monate mehr. Aber solche Langzeit-Prognosen sind etwas für Optimisten.« Seine Stimme klang wie die eines Roboters. Die Ratio hatte die Kommandozentrale übernommen und die Emotionen schlafen geschickt.

Ein Jahr nur. Zwölf kurze Monate. Von denen er einige im Krankenhaus verbringen würde. Es tat jetzt schon so weh. Wie würde es sich erst anfühlen, wenn er nicht mehr da wäre? Und warum konnte sie nur an den Tod denken und nicht daran, dass er gerade neben ihr saß – an diesem sonnigen Frühlingstag. Sollten sie die verbleibende Zeit nicht in vollen Zügen genießen, statt sich zu fragen, was danach käme?

Als hätte Ranieri ihre Gedanken gelesen, sagte er nun: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich all diese Therapien mitmache. Sterben muss ich sowieso. Was bringt mir mehr Zeit, wenn ich sie nicht nutzen kann? Ich möchte nicht dahinsiechend auf den Tod warten. Außerdem hasse ich Krankenhäuser.«

Er ließ zu, dass Priska seine Hand sanft streichelte und endlich löste er seine verkrampften Finger von der Mauer und umschlang die ihren. Priska bemerkte erst jetzt, dass sie noch ein Stück Schüttelbrot in der Linken hielt, die sie unbewusst zur Faust geballt hatte. Die harte Kruste stach in ihr Fleisch. Sie stopfte die Brotkante rasch zurück in den Rucksack. Nach Essen war ihr nicht mehr zumute. Fast schämte sie sich dafür, dass sie sich noch vor wenigen Minuten genüsslich und nichtsahnend einer solch profanen Tätigkeit hatte widmen können.

»Aber wenigstens hat es meinem Vater mal richtig die Sprache verschlagen.« Für einen kurzen Moment stahl sich der Schalk zurück in Ranieris blaue Augen. »Immer, wenn ich Kopfschmerzen hatte, beschimpfte er mich als Memme. Tja, jetzt weiß er, warum mir der Schädel weh tut. Und ich hab Ruhe vor ihm und seinem eigenem, ewigem Geseier. Den Hof werde ich nun sicher nicht mehr übernehmen.« Sein Blick wurde wieder trüb. «Und studieren auch nicht.«

Priska suchte krampfhaft nach passenden Worten. Doch es gab keine. »Helfen Dir Medikamente gegen die Kopfschmerzen?« Fragte sie lahm.

Ranieri musterte sie nachdenklich. »Ja, mal mehr, mal weniger. Aber es wird noch andere Symptome geben, je mehr die Krankheit fortschreitet. Halluzinationen zum Beispiel. Dann werde ich Dinge sehen, die nicht existieren und endlich nachfühlen können, wie es Dir geht.«

Priskas Hand zuckte reflexartig. Am liebsten hätte sie ihm für diesen Spruch eine saftige Ohrfeige verpasst. Hirntumor hin oder her. Stattdessen beugte sie sich zu ihm hinüber und küsste ihn. Seine Lippen, die eben noch von einem spitzbübischen Lächeln umspielt wurden, waren weich. Er grub seine Finger in ihre Locken und erwiderte die sanfte Liebkosung. Es war kein stürmischer, dafür ein überaus zärtlicher Kuss. Für einen Moment verharrten sie dicht an dicht. »Willkommen in meiner Welt«, wisperte sie ihm ins Ohr, als sich ihre Münder schließlich voneinander lösten.

Versonnen strich Ranieri mit seinen Fingerkuppen über ihre Wangen. »Ich wollte mich der Bergrettung anschließen«, informierte er sie.

»Wie bist Du denn auf die Idee gekommen?« Priska war ein wenig verblüfft angesichts dieses abrupten Themenwechsels.

»Sie suchen immer händeringend nach Leuten und guten Kletterern.« Er machte eine kurze Pause und wickelte sich eine ihrer Haarsträhnen um den Zeigefinger.

»Aber sie erklärten mir, dass die Ausbildung mindestens zwei Jahre dauert. Doppelt so lange, wie ich voraussichtlich noch leben werde.« Er lachte bitter auf. »Außerdem ist es fraglich, ob sie mich mit meinem … Handicap …überhaupt aufgenommen hätten. Doch es wäre eine Möglichkeit gewesen, die Zeit, die mir noch bleibt, sinnvoll zu nutzen. Und mich hätten sie gerne zu den riskantesten Einsätzen beordern dürfen. Wäre ich dabei drauf gegangen, hätte ich nicht auf den Tod warten müssen. Das ist nämlich ein echt ätzendes Gefühl und es wird noch schlimmer werden. Oft denke ich, es wäre besser, ich würde gleich abkratzen. Dann hätte ich es wenigstens hinter mir.«

Ranieris lapidar und nüchtern dahingesagte Worte glichen dumpfen Hieben direkt in Priskas Magengrube. Wie konnte er nur so denken und sich bereit erklären, sein Leben einfach so wegzuwerfen? War es ihm völlig egal, dass er sie zurücklassen würde? Da war er wieder. Ihr vermaledeiter Egoismus. Dennoch musste sie sich zum wiederholten Male fragen, warum sie ihn – und – ob er sie überhaupt liebte.

Andererseits war er es, der am Abgrund stand und dem Tod ins Auge sah. Konnte sie auch nur den Hauch einer Ahnung haben, wie sie sich an seiner Stelle fühlen würde?

Trotz seiner Liebkosungen schien es ihr gerade so, als würde sie neben einem Eisklotz sitzen. Es war daher nicht weiter verwunderlich, dass sie just in diesem Moment von einem Schüttelfrost ergriffen wurde. Zitternd schlug sie sich die Hände vors Gesicht.

»Ach, Priska, es tut mir leid.« Ranieri seufzte bedauernd. »Aber Du bist siebzehn. Und gesund. Du hast noch Dein ganzes Leben vor Dir. Irgendwann wirst Du Dein Glück mit einem Anderen finden.« Diese abgedroschenen Worte stimmten sie nicht versöhnlich. Im Gegenteil, sie entfachten ihre Wut. Ranieri klang plötzlich wie ein alter Mann. Und sein abgeklärter Tonfall bar jeglicher Emotion.

Hastig stand sie auf. »Gib mir Bescheid, wenn ich Dir helfen kann. Ich bin immer für Dich da, das weißt Du.« Hölzern antworte sie auf seine Phrasen mit ebensolchen Worthülsen. Was nicht bedeuten sollte, dass sie nicht meinte, was sie sagte. So gerne hätte sie noch ein »Ich liebe Dich« hinzugefügt, aber es kam ihr nicht über die Lippen.

Ranieri erhob sich gleichfalls. Seine Mundwinkel zuckten und Priska wusste nicht, ob er gleich lachen oder weinen würde. Er tat nichts von Beidem. Zögerlich trat er auf sie zu und zog sie in seine Arme. Für heute war alles gesagt. Zwar erschien es Priska falsch, dass der zu Tröstende selbst zum Tröster wurde, aber lieber schmiegte sie sich an ihn, als dass er weiterhin munter auf ihrer Seele herumtrampelte. Der Frieden währte jedoch noch kurz. Ranieri wirkte plötzlich angespannt und drehte seinen Kopf ruckartig nach rechts. »Was ist los«, erkundigte sich Priska alarmiert. »Es geht früher los, als ich dachte«, erwiderte er gepresst. »Ich werde verrückt.«

Priska fuhr herum. Ihre Augen folgten Ranieris Blick, aber sie konnte nichts Auffälliges entdecken. Die Frühlingsidylle schien ungetrübt. Fragend sah sie ihn an, doch er schüttelte nur leicht den Kopf. Hand in Hand machten sie sich an den kurzen Anstieg zum Gasser-Hof, auf dem Priska und ihre Eltern seit vielen Jahren jeden Urlaub und unzählige Wochenenden verbrachten. Für Priska war Südtirol eine zweite Heimat, der sie sich sogar enger verbunden fühlte als München, was natürlich nicht zuletzt an Ranieri lag. Würde sie jemals wieder einen Fuß in das Eisacktal setzen, wenn er nicht mehr wäre? Sie schluckte und umfasste Ranieris Hand ein wenig fester. Er drückte seinerseits sanft ihre Finger.

Auf halber Strecke passierten sie ein altes Mütterlein, das mit gesenktem Haupt am Wegesrand auf einer Rastbank saß und in der abgenutzten, schweren Schürze wühlte. Ranieri beschleunigte seine Schritte und sie hatte Mühe, mitzuhalten. Die Frau würdigte er keines Blickes. »Schau nicht zurück,« flüsterte eine beschwörende Stimme in ihrem Kopf. Und doch tat sie genau das. Wie ferngesteuert wandte sie sich um und ihr Blick heftete sie sich auf die Greisin, welche im selben Moment ihr unter einem weiten Tuch verborgenes Haupt hob. Doch statt in ein Gesicht blickte Priska in eine verschwommene graue Fratze, deren einzige Fixpunkte die grässlichen Augen waren. Glühenden Kohlen gleich prangten sie in der grotesken Imitation eines menschlichen Antlitzes. So konturlos dieses schaurige Zerrbild, so greifbar das Böse, das seine dunklen Tentakeln tastend nach ihr ausstreckte. Im selben Augenblick änderte sich die Stimme in ihrem Kopf: »Du kannst nicht davonlaufen,« höhnte sie.

Gewaltsam reißt Priska sich aus dieser traumatischen Erinnerung, die sie tief in ihrem Inneren begraben glaubte. Sie zittert wie Espenlaub. Nebenan hört sie Luis und Elena miteinander scherzen. Das Gemüse in der Pfanne ist zwischenzeitlich zu einem undefinierbaren, schwarzem Etwas zusammengeschrumpft, der eben aufgegossene Pfefferminztee erkaltet. In Priskas Kopf mischen sich reale Begebenheiten mit Träumen, die Gegenwart mit der Vergangenheit. Ihre Gedanken fügen sich kurz wie Puzzleteile zu einem löchrigen Bild zusammen, um im nächsten Moment wieder auseinanderzustieben.

Priska weiß nicht mehr, was echt ist. Handelt es sich bei dem Gespenstermann tatsächlich um Ranieri? Geister sind doch ortsgebunden? »Nicht alle,« wispert eine sanfte Stimme. »Du musst noch viel lernen.« Priskas Teetasse zerspringt klirrend auf dem Fliesenboden.

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